Tanz im Mondlicht
Wahrheit?
Die Biene flog kreisend wie in einem Trichter in die Zweige des Baumes empor. Er sah zu, wie sie Achter in den blauen Himmel beschrieb. Ihre Flügel waren ein schwarzer, verschwommener Fleck. Ohne die Bienen war die Apfelplantage zum Sterben verurteilt. Genau wie Menschen ohne Liebe starben. Dylan hatte gespürt, wie sein Leben nach und nach erlosch, bevor Jane auf der Bildfläche erschienen war. Er runzelte die Stirn, beobachtete die Biene und dachte, dass manche Dinge im Leben unmöglich sind. Die meisten Dinge, genauer gesagt.
Diese Plantage beispielsweise.
Eine Sisyphusarbeit. Eine einzige, kosmische Unmöglichkeit.
Dylan saß unter dem Baum, sah der Biene zu und grübelte. Äpfel waren nicht in der Lage, sich selbst oder Blüten derselben Sorte zu befruchten. Um Obst von hoher Qualität zu züchten, war eine Fremdbestäubung unabdingbar, was voraussetzte, dass man verschiedene Apfelsorten auf engstem Raum anpflanzte. Die Blüte musste bei allen Sorten zeitgleich erfolgen.
Wie sollte es einem menschlichen Wesen – noch dazu einem Gesetzeshüter im Ruhestand – gelingen, die Blütezeiten zu koordinieren? Schließlich galt es auch noch andere Faktoren zu berücksichtigen. Manche Apfelsorten, wie Jonagold, Stayman, Winesap und Mutsu, konnten aufgrund ihrer unfruchtbaren Pollen nicht als Bestäuber dienen. Man brauchte Pollen von anderen Sorten, um Bäume mit unfruchtbaren Pollen zu befruchten.
Um ehrlich zu sein: Die Biene erledigte die ganze Arbeit.
Dylan saß auf der warmen Erde, beobachtete die Biene. Er dachte an Jane, die mehr als fünfzehn Jahre lang Chloes Bild in ihrem Medaillon mit sich herumgetragen hatte. Er dachte an Chloe, die ihren Ausweis frisiert hatte, um die Sachbearbeiterin im Familiengericht hinters Licht zu führen und Einblick in ihre Adoptionsunterlagen zu erhalten.
Zwei Menschen, die dasselbe Ziel anstrebten: Verbindung miteinander aufzunehmen.
Das alles schien völlig richtig. Doch warum kam es Dylan, der unter dem halb abgestorbenen Apfelbaum saß, so falsch vor?
Kapitel 24
J ane verließ Dylans Plantage wie in Trance und schlug den Heimweg ein, doch dann lenkte sie den Wagen in Richtung Stadt, zum Krankenhaus. Sie brauchte ihre Mutter. Es war ein unvermitteltes, spontanes, urwüchsiges Bedürfnis. Sie parkte unweit des Eingangs, eilte den Gehsteig entlang und drückte auf den Fahrstuhlknopf; sie fühlte sich wie betäubt.
Als sie das Zimmer betrat, fand sie ihre Mutter im Bett sitzend vor; der Fernseher war eingeschaltet, es lief eine
Gameshow
. Jane blieb wie angewurzelt auf der Schwelle stehen, zutiefst erschüttert, aus hundert verschiedenen Gründen. An allererster Stelle auf der Liste stand die Tatsache, dass ihre brillante, gebildete Mutter sich eine Sendung ansah, in der eine gebräunte, blonde Moderatorin den Gewinnern aus dem Publikum Mikrowellenöfen als Preis überreichte.
»Hallo, Mom«, sagte Jane.
»Oh, nein.« Ihre Mutter tastete nach der Fernbedienung und stellte den Ton leise. »Jetzt hast du mich ertappt.«
»Dich ertappt?«
Ihre Mutter errötete. »Mir war derart langweilig, dass ich meinen Schwur gebrochen habe – niemals am helllichten Tag fernzusehen. Aber die Medikamente machen mich so müde, dass ich mich auf nichts konzentrieren kann. Wenn ich mir ein Buch vornehme, schaffe ich gerade eine halbe Seite, bevor mir die Augen zufallen.«
»Das muss frustrierend sein.« Jane zog sich einen Stuhl heran. »Wo du immer so gerne gelesen hast.«
»Bücher haben mir das Leben gerettet«, sagte ihre Mutter, vollkommen ernst. »In all den harten Zeiten …«
»Ich weiß.« Jane dachte daran, wie oft sie sich selbst im Lauf der Jahre in die Welt der Bücher versenkt hatte, wie ihr die Charaktere und Autoren ans Herz gewachsen waren, und wie sie ihr zeitweilig sogar das Gefühl vermittelten, über die Schwierigkeiten in ihrem eigenen Leben hinauszuwachsen.
Ihre Mutter deutete auf den Bildschirm. »Solche Sendungen sind … wie Zuckerwatte. Leichte Kost, und sie macht süchtig. Doch sie können den Hunger nicht stillen, man fühlt sich hinterher ein bisschen … leer.«
Jane lauschte mit geschlossenen Augen. Dylans Worte und der Ausdruck in seinen Augen klangen noch immer in ihr nach, hallten in ihrem ganzen Körper wider. Sie musste die Arme um sich schlingen, um das Zittern einzudämmen.
»Bücher haben die entgegengesetzte Wirkung. Wie unterhaltsam, spannend oder romantisch sie auch sein mögen, sie sind eine gehaltvolle Kost. Ein
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