Tanz im Mondlicht
Liebe lieferten, dachte sie.
»Ich liebe sie«, sagte Jane.
»Dann musst du dich von dieser Liebe leiten lassen.«
»Er liebt sie auch.«
»Liebe schließt sich nicht gegenseitig aus … lass dich von ihr leiten.«
Jane nickte, stand auf. Dabei spürte sie, wie das Handy, das sie auf stumm geschaltet hatte, an ihrer Hüfte vibrierte. Sie zog es hervor, sah eine unbekannte Nummer aus Rhode Island und beschloss, der Sache später auf den Grund zu gehen, wenn sie die Klinik verlassen hatte.
»Das hat sie immer getan; ich war mir vorher nur nicht mehr sicher, wie es weitergehen soll.«
»Aber jetzt bist du es?«
»Ja.«
Ihre Mutter küsste sie. In dem Moment kam Sylvie zur Tür herein, und die Schwestern sahen sich an. Sylvies Blick war vorwurfsvoll.
»Du wollest gestern Abend herkommen«, sagte sie.
»Ich weiß. Es tut mir leid; ich wusste nicht, dass du ein Treffen mit Abby geplant hattest.«
»Das war nicht geplant – sie hatte zufällig Zeit und kam an Moms Zimmer vorbei. John und ich waren da, deshalb setzte sie sich zu uns … und wir sind ins Gespräch gekommen.« Sie warf ihrer Mutter einen raschen Blick zu, die sich mit geschlossenen Augen und einem leichten Lächeln in die Kissen zurückgelehnt hatte, als erinnerte sie sich an den letzten Teil der Unterhaltung mit Jane. Der Fernseher war eingeschaltet, lieferte Bilder ohne Ton. Ihre Mutter war eingeschlummert. Vermutlich schlief sie nicht sehr tief – nur ein kleines Nickerchen, eines von vielen, die sie jeden Tag machte. Doch ihre Augen blieben geschlossen, und ihr Kopf sackte nach vorn, ihr Kinn ruhte auf der Brust. »Wie geht es ihr heute?«, fragte Sylvie.
»Sie ist traurig wegen ihrer Bücher.«
Sylvie spähte zum Bett hinüber. Die Haut ihrer Mutter war bleich, aber auf ihren Wangen zeichneten sich zwei rote Flecken ab.
»Sie sieht nicht traurig aus.«
»Wir haben uns über Chloe unterhalten«, sagte Jane.
Sylvies Augen weiteten sich.
»Sie hat sie beim Namen genannt. Zum ersten Mal …«
Sylvie schüttelte den Kopf.
»Das hat sie oft getan, in meiner Gegenwart. Mom wollte Chloes Existenz nicht totschweigen – sie konnte es nur nicht ertragen, dich leiden zu sehen. Sie meinte, dass du sie nicht so schrecklich vermissen würdest, wenn niemand sie erwähnt.«
»Wie denn? Wie könnte ich das?«
Sylvie nickte. Sie sah glücklicher aus, irgendwie reifer. Die Liebe zu John hatte sie offensichtlich verändert, hatte sie gewärmt, erfüllt, ihr das Gefühl gegeben, in Harmonie mit sich selbst und der Welt zu sein. Jane war es mit Dylan ähnlich ergangen. Sie zwang sich, ihn aus ihren Gedanken zu verbannen. Sie musste sich jetzt auf Chloe konzentrieren, auf die Chance, mit ihr ins Reine zu kommen. »Wenigstens hast du sie gesehen, sie kennengelernt«, sagte Jane.
»Ach, Janey.« Sylvie schloss sie in die Arme. »Glaubst du, das war das erste Mal, dass ich sie zu Gesicht bekommen habe? Mom pflegte ihrer Schule jedes Jahr einen Besuch abzustatten. Unter einem Vorwand – eine Rektorin, die sich informiert, was sich in anderen Schulen tut. Später nahm sie mich immer mit.«
»Und was hielt Mom von ihr?«, flüsterte Jane und betrachtete ihre Mutter.
»Das Gleiche wie ich. Sie ist ausnehmend hübsch. Und hat deinen wachen Verstand.«
»Danke, dass du es mir erzählt hast.«
»Warst du gestern Abend bei den beiden?«
Jane musterte ihre Hände – die Chloe von ihr geerbt hatte. Sie dachte an die Fahrt durch Newport und wie sich die salzhaltige Luft angefühlt hatte, die durch die geöffneten Fenster in die Fahrerkabine von Dylans Pick-up gedrungen war. Sie dachte an die Kränkung, an den Ausdruck eiskalter Wut in seinen Augen. Sie sah Sylvie an, ihre Blicke trafen sich. Früher, vor Chloes Geburt, hatten sie sich sehr nahegestanden. Bis Jane Mutter geworden war.
Eine Phantommutter.
Mit der gleichen Liebe zu ihrem Kind wie jede Mutter auf der Welt, aber ohne ein Kind, dem sie ihre Liebe schenken konnte. Mit dem Kind hatte sie auch ihre Herzenswärme verloren. Danach war nichts mehr so wie früher gewesen. Doch nun musste Jane, als sie Sylvie erzählen wollte, was sich gestern Abend zugetragen hatte, die Tränen zurückhalten.
»Was ist, Jane?« Sylvie trat näher.
Jane biss sich auf die Lippe. Liebe bewirkte seltsame Dinge. Sie gab Menschen einen Grund zu leben. Sie war Ursache für Herzeleid und Verrat. Sie brachte Familien zusammen und auseinander – bisweilen gleichzeitig. Und nun brachte sie Jane dazu zu schweigen, bis
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