Tanz im Mondlicht
nahrhaftes Mahl für Leib und Seele …« Ihre Stimme brach, und sie barg den Kopf in den Händen.
»Was ist, Mom?« Jane beugte sich vor.
»Ich vermisse meine Bücher!«, schluchzte ihre Mutter.
»O Mom … es dauert nicht mehr lange, bis du sie wiederhast. Die Sozialarbeiterin meinte, dass du bald entlassen wirst.«
»In ein …« Ihre Mutter schluckte. »… Pflegeheim.«
Jane nahm Margarets Hand. Teil einer Familie zu sein war eine rätselhafte Sache: Es gab immer jemanden, dem es noch schlechter ging als einem selbst. Wie hatte ihre Mutter von dem Vorhaben erfahren? Sylvie und sie waren übereingekommen, gemeinsam mit ihr darüber zu sprechen.
»Wer hat es dir gesagt?«, fragte Jane.
»Sylvie«, erwiderte ihre Mutter schniefend. »Gestern Abend.«
Jane nickte schuldbewusst. Ihr war nicht klar gewesen, dass Sylvie das Thema wie einen Punkt auf der Tagesordnung betrachtete, den es strikt nach Plan in Angriff zu nehmen galt. Oder vielleicht hatte Abby sie dort gesehen und die Gelegenheit beim Schopf ergriffen.
Jane hatte Dylan die Pasteten geliefert und Chloe und Mona bei ihrem Abstecher nach Newport begleitet. Wäre sie nur, wie verabredet, zu Sylvie ins Krankenhaus gefahren! Sie hätte ihre Schwester und Mutter unterstützen können und Dylan keine Gelegenheit gegeben, das Bild in ihrem Medaillon zu entdecken. Bei dem Gedanken zitterte sie von Kopf bis Fuß: es war ein Gefühlsaufruhr wie ein Erdbeben.
»Seid ihr der Meinung, dass ich in ein Pflegeheim gehöre?«, fragte ihre Mutter nun, als hätte sie dieselbe Frage in den vergangenen Wochen nicht schon mehrmals gestellt.
»Du bist gestürzt«, erwiderte Jane, als hätte sie dieselbe Antwort in den vergangenen Wochen nicht schon mehrmals gegeben.
»Und ich werde langsam vergesslich.« Ihre Mutter schlug die Hände vor die Augen. »Das ist das Allerschlimmste; ich habe vorhin geschwindelt, als ich sagte, die Medikamente wären schuld daran, dass ich mir nicht merken kann, was ich lese. Das ist nicht der wahre Grund – es passiert ganz einfach. Es ist mein Verstand … und dabei war ich früher … so auf Zack!«
»O Mom, das bist du heute noch.«
Ihre Mutter schüttelte den Kopf, schluchzte leise. »Ich kann kaum dieser Spielschau im Fernsehen folgen. Ich vergesse alles. Meine Bücher, meine Bücher …«
Jane schloss die Augen, spürte die knochige Hand ihrer Mutter. Sie dachte an das Blut in den Adern ihrer Mutter, ein Fluss der Zeit und Liebe, der an Jane und Sylvie und an Chloe weitergegeben worden war. Sie dachte an die Liebe ihrer Mutter zu Büchern und Geschichten, ein Fluss der Worte, der Symbole und Bedeutungen mit sich führte, der sie alle miteinander verband. Bücher und Mütter und Kinder, heiß geliebt von Margaret, heiß geliebt von Jane.
»Ach, Sylvie, ach, Jane«, seufzte ihre Mutter, brachte die Namen ihrer Töchter durcheinander, und hob ihre verschränkten Hände an ihre Lippen. Sie küsste Janes Hände, dann trocknete sie damit ihre Tränen. »Du siehst so traurig aus … es tut mir leid, dass ich dich auch noch mit meinen Problemen belaste.«
Jane versuchte zu lächeln, aber es misslang. Sie war tief bekümmert über den Gedächtnisschwund und die Unfähigkeit ihrer Mutter, zu lesen. Der Kummer und die Erkenntnis, dass niemand an dem festzuhalten vermochte, was man liebte, setzte ihr hart zu.
»Was ist, Kind?« Ihre Mutter sah sie forschend an. »Was ist passiert?«
»Ich habe Sehnsucht nach meinem Baby«, flüsterte Jane.
Ihre Mutter antwortete nicht, umklammerte nur Janes Hand. Sie saß stumm und reglos in ihrem Krankenhausbett, sah ihre Tochter an. Ihre Haut war zart, bemerkenswert faltenlos, ihre lebenslange Liebe zu Büchern hatte sie bewogen, sich mehr im Schatten aufzuhalten als in der Sonne.
Worte konnten nicht schildern, was in diesem Augenblick in Jane vorging. Das Bedürfnis, ihre Mutter zu sehen, ihr eigen Fleisch und Blut, war wie ein Sog, der sie von Dylans Schlafzimmer in dieses Zimmer des Krankenhauses gezogen hatte; ein gleich starker Sog zog sie in die entgegengesetzte Richtung. Das hatte nichts mit Vernunft oder Logik zu tun; das Gefühl kam aus dem Herzen.
Ihre Mutter schwieg. Aber Jane konnte an ihren Augen erkennen, dass sie verstand. Margaret Porter, Schulleiterin, hatte endlich begriffen. Eine erstaunliche Tatsache. Es schien, als hätte sie durch den Verlust bestimmter Verknüpfungen im Gehirn das Bindeglied in ihrem Herzen gefunden.
»Ich wollte nur dein Bestes«, sagte ihre Mutter
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