Tanz im Mondlicht
Oder an die Teenagerzeit, als sie per Anhalter nach Hartford gefahren war, Sylvie im Schlepptau, um ihren Vater zu suchen. Oder wie sie um ihr Kind geweint hatte, als wäre sie von Sinnen. Und dann dachte sie daran, wie sie in diesem Frühjahr aufgeblüht war – als sie Verbindung mit Chloe aufgenommen und sich in Dylan verliebt hatte.
»Jane«, seufzte sie.
In diesem Augenblick fiel eine Sternschnuppe vom Himmel. Wie ein Feuerball, eine silberne Scheibe gleich Janes Medaillon, ließ sie einen Feuerschweif am Himmel zurück. Sylvie löste sich aus Johns Armen und sprang auf, stand reglos da und verfolgte ihren Lauf. Sie hätte schwören mögen, dass sie direkten Kurs auf den See nahm, während sie die Schwärze der Nacht zerriss.
Es geschehen noch Zeichen und Wunder,
dachte Sylvie.
Einfach so, aus dem Nichts
…
»Gib die Hoffnung nicht auf«, flüsterte sie und grub die Fingernägel in ihre Handflächen. Die Worte waren an ihre Schwester gerichtet, aber auch an sich selbst: Liebe und Sternschnuppen tauchten bisweilen aus der Dunkelheit auf und veränderten die Welt, vor allem dann, wenn man es am wenigsten erwartete.
Die Sternschnuppe verschwand. Sie hinterließ einen weiß-blauen Streifen am Himmel, wie eine Narbe; während Sylvie zusah, verblasste sie, wurde zuerst silbrig, dann schwarz, so dass sie sich einen Moment später fragte, ob sie wirklich eine Sternschnuppe gesehen hatte. Doch dann kam John zu ihr, nahm sie in die Arme und küsste sie.
Sein Kuss war glühend und verlieh der Sternschnuppe neues Leben.
»Hast du das gesehen?«, fragte Eli Chadwick, drei Staaten entfernt auf der hinteren Veranda seines Hauses in Rhode Island.
»Habe ich«, sagte Sharon, die neben ihm auf der Treppenstufe saß. »Ein regelrechter Feuerball.«
»Chloe!«, rief Eli. »Komm heraus und schau dir die Sternschnuppen an!«
Keine Antwort.
Sharon blickte zum Fenster von Chloes Zimmer empor. Das Licht brannte, das Fenster stand offen. Einige der Plantagenkatzen waren an der Regenrinne hochgeklettert und saßen auf der Fensterbank. Eine stieß einen Laut aus, der wie ein Juchzer klang, als freute sie sich unbändig über die Sommernacht.
»Was treibt sie da drinnen?«, fragte Eli.
»Keine Ahnung.«
»Sie hat mich um meine alten Zeitschriften gebeten. Und als ich das letzte Mal an ihrem Zimmer vorbeikam, war sie gerade dabei, alle möglichen Sachen daraus auszuschneiden.«
»Für eine Collage. Das haben Mona und sie früher oft gemacht. Ich dachte, damit sei jetzt Schluss.«
In der Stille, die folgte, hörte sie – da sie nun wusste, worauf sie achten musste – das Schnipp-Schnipp der Schere.
»Sie ist ganz schön kompliziert«, sagte Eli. »Zuerst bettelt sie, an Dylans Verkaufsstand arbeiten zu dürfen, und jetzt will sie offensichtlich nichts mehr damit zu tun haben. Seit die Pastetenquelle versiegt ist und er bei einem Großhändler kauft, hat sie das Interesse daran verloren.«
»Wir wissen, warum sie nicht mehr am Stand arbeiten will. Und es hat nichts mit den Pasteten aus dem Großhandel zu tun.«
»Diese Frau. Ich hätte sie liebend gerne verhaften lassen, wenn ich eine Handhabe gegen sie gehabt hätte.«
Sharon biss die Zähne zusammen. Sie schüttelte den Kopf, blickte zu Chloes Licht hinauf. »Das hätte nichts gebracht.«
»Sie hatte kein Recht, hierherzukommen. Sich sozusagen durch die Hintertür, unter Vorspiegelung falscher Tatsachen in Chloes Leben zu schleichen. Und in Dylans!«
»Dylan kann ganz gut auf sich selbst aufpassen«, entgegnete Sharon. »Er machte einen glücklichen Eindruck in diesem Sommer – zum ersten Mal seit Jahren. Seit er Isabel verloren hat.«
»Nun sag mir jetzt aber bitte nicht, dass du sie in Schutz nimmst!«
Sharon antwortete nicht gleich. Erinnerungen gingen ihr durch den Kopf, jagten sich, viele davon verstörender als alles, was sich in diesem Sommer zugetragen hatte. Sie erinnerte sich an das Jahr, in dem Isabel ums Leben gekommen war, als Chloe verstummt war. Wie sie versucht hatte, ihre Tochter zu wiegen, in die Arme zu nehmen und zu trösten, und wie untröstlich Chloe gewesen war. Nur Dylan war an sie herangekommen, und Sharon hatte gespürt – auf einer Ebene verstanden, die zu tief war für Worte –, dass Chloe sich durch den Verlust mit ihm verbunden fühlte.
Durch den Verlust ihrer leiblichen Mutter.
Adoption war eine wunderbare Sache, leidvoll und freudvoll zugleich. Chloe war in Elis und Sharons Leben getreten, hatte die Ödnis in einen
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