Tanz im Mondlicht
Chloe immer nahe gewesen, hatte sie auf Schritt und Tritt begleitet. Ihre Eltern und Onkel Dylan hatten sie tagein, tagaus geliebt, hatten sie mit mehr Liebe großgezogen als jedes andere Kind, das sie kannte, aber Jane hatte sie ebenfalls geliebt …
»Eines verstehe ich trotzdem nicht«, sagte Chloe. »Es hat damit zu tun, dass zwei Menschen sich nahe sein können, ohne dass sie sich in unmittelbarer Nähe befinden.«
»Nahe?«
»Wie bei dir und Isabel.«
Onkel Dylan hörte schweigend zu. »Du warst in ihrer Nähe – bei ihrem ersten und bei ihrem letzten Atemzug. Du bist auch jetzt bei ihr, stimmt’s?«
»Ich denke, sie ist bei mir … ja.«
»Das ist ein und dasselbe. Die Menschen tun ihr Bestes, um sich nahe zu sein.«
»Manchmal ist es nicht gut genug.«
»Ich finde schon. Schau dir Jane an.«
»Komm«, sagte ihr Onkel, sicherte sein Gewehr, legte es über die Schulter und schickte sich zum Gehen an. »Es reicht. Ab nach Hause.«
»Ich möchte sie besuchen.« Chloe stand wie angewurzelt da. Sie dachte an ihre Collage. Hoffentlich würde sie damit ihre Eltern nicht kränken; irgendwie hatte sie das Gefühl, dass ihre Mutter nicht aufgebracht sein würde.
Sie hatte sogar seit einiger Zeit den Verdacht, dass ihre Mutter wollte, dass sie Jane anrief. Neulich war sie zum Frühstück heruntergekommen und hatte die
New York
Times auf dem Tisch vorgefunden – ihre Mutter hatte sie abonniert, wegen der Rubriken Essen und Trinken, Haus und Garten, die jeden Mittwoch und Donnerstag erschienen –, aufgeschlagen auf einer Seite mit einer kleinen Meldung: »Calamity Jane zurück!«
Es gab auch ein Foto von Jane mit weißer Bäckermütze; sie stand vor ihrer Konditorei auf einer von Bäumen gesäumten Straße. Chloe hatte es lange betrachtet. Janes Miene war verschlossen. Sie versuchte zu lächeln, aber es schien ihr nicht zu gelingen. In dem Artikel hieß es, dass sie eine Menge Apfelpasteten für den Herbst zu backen habe. Ihre Mutter hatte die Zeitung wortlos liegen lassen.
»Du willst sie besuchen? Das ist nicht dein Ernst«, sagte ihr Onkel.
»Doch.«
»Das ist eine schlechte Idee, Chloe.«
»Sie ist nicht deine Mutter.«
»Wohl wahr. Aber sie hat dich nicht großgezogen – das waren mein Bruder und Sharon. Sie lieben dich.«
Chloe gab einen Laut von sich, halb Lachen oder Weinen. Konnte ihr Onkel dermaßen vernagelt sein? Sie sah sich um. Die Wiese war lebendig, angefüllt mit hohen Gräsern, Grillen und Füchsen. Rotwild äste auf der anderen Seite. Eine Eule hauste auf dem Heuboden, ernährte sich von den Mäusen, die es im Überfluss gab. Überall standen Apfelbäume, mit Früchten beladen. Der Mond ging im Osten auf, hüllte die Plantage in seinen Schein. Die Katzen tanzten.
»Was ist daran so komisch?«, fragte Onkel Dylan.
»Das musst du schon selbst herausfinden.« Chloe streckte die Hand aus, nahm alles in sich auf.
»Chloe, wovon redest du?«
»Erinnerst du dich an den Tanz auf dem Heuboden? Zu Moms und Dads Hochzeitstag?«
»Ja. Was ist damit?«
»Wir brauchen wieder ein Fest, Onkel Dylan. Und zwar schnell. Bevor du noch weiter dahinsiechst.«
»Ich sieche nicht dahin. Ich bringe dich jetzt nach Hause, und dann rufe ich die Polizei an und erstatte Anzeige gegen die beiden …«
»Du sagtest, Mom und Dad lieben mich.« Chloe ergriff die rauhe Hand ihres Onkels.
»Richtig, das tun sie.«
»Das weiß ich. Sie haben mir so viel Liebe gegeben, dass ich noch eine Menge übrig habe …«
»Chloe.«
»Für dich, für Isabel, für Mona, für die Katzen … für meine leibliche Mutter.«
Er antwortete nicht. Er stand reglos da, das Gewehr über der Schulter, als wäre er unter dem Licht des aufgehenden Mondes zur Salzsäule erstarrt.
»Jane«, sagte er nach einer Weile.
»Gib es zu, Onkel Dylan – du liebst sie auch.«
Abermals erstarrte er. Der Mond stieg höher, bewirkte, dass ein dunkles Feuer in seinen Augen glomm. Chloe sah, dass er an Jane dachte.
»Ich vermisse ihre Pasteten«, sagte er.
»Die Pasteten, die wir am Stand verkaufen, sind Schrott.«
»Ich weiß.«
»Sie backt in New York. Ich habe einen Artikel in der Zeitung gelesen. Mom hat ihn so hingelegt, dass ich ihn gar nicht übersehen konnte. Ich werde hinfahren und sie suchen. Ich fahre nach New York, und ich werde Jane suchen, basta.«
Onkel Dylan starrte Chloe an, versuchte, sie mit seinem harten Bullen-Blick einzuschüchtern. Die Augenbrauen und Wangenknochen waren schon richtig, konnten ihre
Weitere Kostenlose Bücher