Tanz im Mondlicht
unterdrücken. »Wirklich?«
»Mir liegen alle Tiere am Herzen.«
Chloe konzentrierte sich darauf, die nächste Holzplanke blau zu streichen. Ihr Brustkorb hob und senkte sich vor Aufregung. Sie verstand nicht, warum, und hoffte, dass die Frau es nicht merkte. Vielleicht lag es daran, dass sie an Isabel dachte oder sich die Robben bildlich vorstellte.
»Bestimmte Kreaturen gehören in ihren angestammten Lebensraum«, erklärte Chloe nach einer Minute. »Das ist einfach so. Die Leute meinen immer, man könnte sie beliebig verpflanzen, aber das funktioniert nicht. Robben brauchen den kalten Ozean, Löwen brauchen die Serengeti, und meine Katzen brauchen diese Obstplantage.«
Die Frau räusperte sich. Chloe sah hoch. Warum wandte sie den Blick ab?
»Alles in Ordnung?«
»Alles klar«, sagte die Dame. »Es ist nur so, dass ich es genauso empfinde.«
Chloe nickte. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie seltsam es war, mit einer Fremden ein derart tiefschürfendes Gespräch zu führen. »Ähm, wir haben noch nicht eröffnet.« Chloe deutete auf den halbfertigen Stand. »Ich muss noch einmal drüberstreichen, und dann müssen wir überlegen, was wir verkaufen wollen.«
Die Dame lächelte. »Du machst das prima.«
»Danke.«
»Dein Onkel hat mir erzählt, dass du ihm hilfst. Du musst Chloe sein.«
Chloe nickte und lächelte.
»Ich bin Jane.«
Chloe war hingerissen: Wie cool, dass sich eine Erwachsene mit dem Vornamen vorstellte. Wer war sie? Onkel Dylans Freundin? Chloe hatte gehört, wie ihre Eltern Mutmaßungen darüber anstellten, ob sich Onkel Dylan je wieder für eine Frau interessieren könnte. Seit der Tragödie waren vier Jahre vergangen. Chloe wusste, selbst wenn nie darüber gesprochen wurde, dass sich Tante Amanda und er zu dem Zeitpunkt, als das Unglück geschah, getrennt hatten … Chloe musterte die Frau verstohlen, nur für den Fall.
»Kennen Sie Onkel Dylan aus New York?«, fragte Chloe.
»Nein.« Janes Miene war verwirrt. »Lebt er denn nicht hier?«
»Doch, aber bevor Isabel … Egal. Ja, er lebt hier.«
Jane ließ es dabei bewenden, zu Chloes Erleichterung. Sie sprach nicht gerne darüber, was ihrer Cousine widerfahren war.
»Ich habe ihn erst vor kurzem kennengelernt, beim Pädagogen-Dinner.«
»Ach ja, stimmt – er hat meine Großmutter hingefahren. Sind Sie Lehrerin?«
»Nein. Konditorin.« Sie hob den Korb hoch und reichte ihn Chloe. Chloe zögerte. Ihre Hände waren von oben bis unten mit blauer Farbe bekleckst. Jane bemerkte es, lächelte und half ihr aus der Not, indem sie die Serviette anhob.
»Apfelpasteten!« Chloe lugte in den Korb und sah die schönsten Apfelpasteten, die man sich nur vorstellen konnte, richtige Kunstwerke. Es waren vier an der Zahl, goldbraun gebacken, und jede mit einer anderen Verzierung: ein Apfel, ein mit Blüten übersäter Baum, ein Baum mit Blättern und Äpfeln, und ein Vogelnest. »Klasse! Sind die für Onkel Dylan?«
»Ja. Und für dich. Ich dachte, du hast dir eine Belohnung verdient nach der harten Arbeit, die du verrichten musst.«
»Ich möchte gerne die Pastete mit dem Vogelnest.« Chloe blickte in die klaren blauen Augen der Frau. »Ich liebe Vögel. Alle Tiere, genauer gesagt. Das weiß jeder. Deshalb hat mir Onkel Dylan den Job hier gegeben. Weil ich Geld brauche, um Spezialfutter für die Katzen auf der Plantage zu kaufen.«
Jane nickte lächelnd, und Chloe fiel wieder ein, dass sie vorhin das Wort »einfühlsam« benutzt hatte.
»Vielen Dank.« Chloe sah zur Apfelplantage hinüber, hielt nach einem Anzeichen von Onkel Dylan Ausschau. Obwohl sie seinen Traktor hörte, konnte sie ihn nirgends entdecken. Jane folgte ihrem Blick.
»Es ist herrlich hier. Überall Bäume, die kurz vor der Blüte stehen. Schau dir die Knospen an! Morgen wird die Plantage wie eine weiße Wolke aussehen. Ich spüre es regelrecht …«
Chloes Haarwurzeln kribbelten, als wäre ein Gewitter im Anzug und die Luft elektrisch geladen. Was lächerlich war an einem Tag mit strahlendem Sonnenschein. Aber sie wusste, was Jane meinte. »So ist das immer im Frühling«, sagte sie. »Jeden Moment kann etwas Spannendes passieren.«
»Was zum Beispiel?«
Chloe dachte nach. »Zum Beispiel Gelege, aus denen die Jungen schlüpfen. Und die Apfelblüten …«
Jane nickte. »Vorfreude.«
»Ja, genau.«
Sie lächelten einander zu wie Komplizen, und Chloe verspürte abermals das sonderbare Kribbeln. Es begann an den Haarwurzeln, breitete sich über die Stirn und im ganzen
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