Tanz im Mondlicht
konzentrierte.
»Du wirst dir die Augen bei dem Licht verderben«, sagte Margaret.
»Ich sehe genug.«
»Ihr beide habt von Kindesbeinen an Raubbau mit euren Augen getrieben. Und glaubt ja nicht, ihr hättet mich hinters Licht geführt. Sobald ich euch einen Gutenachtkuss gegeben hatte und zur Tür hinaus war, habt ihr eure Bücher und Taschenlampen herausgeholt.«
Jane hob fragend die Brauen, doch Sylvie hielt den Blick gesenkt.
»Du bist verärgert«, sagte Margaret.
»Nein. Warum sollte ich?«, entgegnete Sylvie.
»Weil Freitagabend ist und du beim Münzewerfen verloren hast. Deine Schwester darf ausgehen, und du musst zu Hause bleiben, bei mir. Warum steckst du mich nicht gleich in ein Heim, überlässt anderen die Verantwortung für mich?«
Nun hob Sylvie den Blick. Sie sah aufgewühlt aus, einer Panik nahe. Margaret hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie einen anderen Menschen zu manipulieren versuchte, aber ihr war daran gelegen, Sylvies Aufmerksamkeit zu wecken. Jane stand wie angewurzelt da, wie ein Reh, das vom Scheinwerferlicht eines Autos erfasst wurde. Margarets Kinn zitterte. Trotz der Effekthascherei waren ihre Gefühle echt.
»Du hättest heute Abend ebenfalls ausgehen sollen, mit John«, sagte sie. »Er ist ein netter Mann, ein guter Lehrer … aber stattdessen hockst du allein zu Hause, bei mir; ich bin eine Last für dich.«
»Nein, Mom. John kommt her, er wird bald da sein. Ich werde gleich ein Bad nehmen und mich umziehen. Und bitte sag nicht, du wärst eine Last für mich …«
»Aber das stimmt doch. Du vergeudest die besten Jahre deines Lebens, weil du dich um mich kümmern musst.«
»Mom, du hast dich auch um uns gekümmert, solange wir Kinder waren.«
»Ich weiß«, flüsterte Margaret. Sie spürte ihr Herz in der Brust klopfen. Sie nahm ihre Puppe, drückte sie fest an sich. Ihre Töchter sollten es ruhig sehen. Es war eine subtile Erinnerung für alle. Margaret hatte zwei Kinder allein großgezogen und mehrere tausend Kinder unterrichtet; in Anerkennung ihrer Leistungen war sie von der Stadt zur Direktorin der Schule ernannt worden. Sie hatte immer zuallererst an das Wohl anderer gedacht. Und nun war sie bettlägerig. Sie konnte sich nicht mehr um andere kümmern – nicht einmal um sich selbst. Sie lebte ständig in der Angst, dass ihre Töchter beschließen könnten, sie wegzugeben.
Sylvie sah die Tränen. Sie reichte ihr ein Papiertaschentuch.
»Was ist denn, Mom?«
»Ich …« Margarets Kehle war wie zugeschnürt, als sie in Tränen ausbrach.
Sie spürte, dass die Mädchen warteten. Sie sahen besorgt aus. Margaret hätte gerne gesagt: Ich liebe euch. Ich liebe mein Haus. Es ist das Zuhause, das ich für uns alle geschaffen habe. Hier hattet ihr beide die Windpocken. Hier habe ich euch in den Schlaf gewiegt, wenn ihr schlecht geträumt hattet. Hier bin ich über euren Vater hinweggekommen. Das Haus spiegelt meine Liebe zu blanken Holzböden, Flickenteppichen und zur Farbe Blau wider. Es enthält alle Bilder, die ich jemals von euch gemacht habe, und solange ich hier oder anderswo lebe, werde ich mir wünschen, ich hätte euch häufiger fotografiert. Hier habe ich für meinen Magister gebüffelt. Hier habe ich gelernt, mir Insulin zu spritzen.
Doch die Gedanken wirbelten so ungestüm durcheinander wie ein mächtiger Sturm in einer kleinen Landbucht: Sie türmten sich übereinander, hämmerten aufeinander ein, wühlten den sandigen Grund auf. Die Worte flogen einfach davon, ließen Margaret mit den gleichen Empfindungen wie vorher zurück, ohne eine klare Möglichkeit, sie zum Ausdruck zu bringen. Sie klammerte sich an ihre Puppe und wiegte sich vor und zurück, vor und zurück, während die Tränen immer schneller flossen.
»Ich«, stammelte sie. »Ich, ich, ich, ich …«
Als Sylvie unten war, fühlte sie sich ausgelaugt. Ihre Mutter in einem derartigen Zustand zu sehen wühlte sie auf. So eine kluge, brillante Frau, unfähig, einen angefangenen Satz zu vollenden. Sylvie hatte einen Kloß im Hals, und Jane erging es vermutlich genauso. Sie stand am Fuß der Treppe, blickte nach oben.
»Alles in Ordnung mit ihr?«, fragte Jane.
»Ja. Sie hat sich nur aufgeregt.«
»Sie war beunruhigt angesichts der Vorstellung, dass wir sie in einem Heim unterbringen könnten.«
»Genau das habe ich dir klarzumachen versucht.«
»Es ist nicht so, dass mir das Ganze Spaß macht, Sylvie. Aber wir müssen anfangen, uns ernsthaft mit dem Gedanken
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