Tanz im Mondlicht
den Terminkalender des Jungen, für den sie schwärmten, in- und auswendig kannten (in den letzten zehn Jahren war Gilbert Albert ihr Schwarm gewesen). Sie bewahrte den Strohhalm auf, aus dem er seine Coke trank, oder trug eine Red-Sox-Kappe, weil das seine Lieblingsmannschaft war. Solche Sachen eben.
Deshalb war Mona vermutlich ein wenig verwundert über Chloes lässigen Ton. Vielleicht dachte sie, das sei ein Zeichen von Reife. Es war schließlich ein turbulentes Jahr für Chloe Chadwick gewesen, ausreichend, um den Reifeprozess zu beschleunigen, wenn schon nichts anderes. Chloe dachte darüber nach, was sich in letzter Zeit alles ereignet hatte: Sie war wegen ihrer Antifleischkampagne von SaveRite gefeuert worden, sie hatte den Obststand der Familie eigenhändig vor dem Verfall gerettet, sie hatte ihre Unschuld verloren und sie war in aller Seelenruhe zu der Erkenntnis gelangt, dass sie den Jungen, in den sie gerade noch bis über beide Ohren verknallt gewesen war, widerwärtig fand.
Nur: Das war gelogen.
Von Seelenruhe konnte keine Rede sein.
Nach außen hin wirkte sie heiter und reif für ihr Alter. Doch hinter der Fassade bröckelte es. Sie fühlte sich wie eine kaputte Uhr. Zerbrochen, am Boden zerstört. Wie durch den Fleischwolf gedreht.
Deshalb fand sie alles so ermüdend. Weil sie ihre gesamte Energie eingebüßt hatte. Zwei Tage lang hatte sie Krankheit vorgeschützt, danach konnte sie in der Schule kaum die Augen aufhalten, hatte nur darauf gewartet, endlich nach Hause zu kommen und sich im Bett zu verkriechen. Selbst mit Mona redete sie kaum. Sie gähnte, wenn ihre Mutter sie ermahnte, ihre Hausaufgaben zu machen, wenn ihr Vater mit ihr über die Eignungstests in der Schule reden wollte. Oh, langweilen wir dich?, hatte ihr Vater gestern Abend beim Essen gefragt.
Nein, ich langweile mich nicht, hätte sie am liebsten geschrien. Mit mir ist etwas passiert. Aber ich bin mir nicht sicher, was. Herz und Kopf befanden sich nicht in Einklang miteinander.
Ihre Gedanken waren das reinste Chaos. Die Klimaanlage summte leise vor sich hin, gab ihr das Gefühl, in einer versiegelten Gefrierkammer eingeschlossen zu sein. Nichts gelangte hinein oder hinaus. Ihr Elternhaus war hermetisch abgeriegelt. Sie schlief voll angezogen auf ihrem Bett ein, direkt nach der Schule.
Ihre Träume waren beängstigend.
In einem Traum war sie ein Stern, der am Firmament blinkte. Die Menschen sahen nachts zu ihr empor, um sich etwas zu wünschen. Plötzlich stürzte sie vom Himmel herab. Sie raste durch die Dunkelheit, purzelte durch den Weltraum, fiel auf die Erde. Ein erloschener Stern, der wie eine Muschel im Sand lag, während Jungen weit draußen vor der Küste surften. Eine Frau hielt nach Strandgut Ausschau. Sie hob den Stern auf und trug ihn nach Hause. Sie wickelte ihn in Seidenpapier und legte ihn in eine Schachtel. Sie verstaute die Schachtel auf dem Dachboden und flüsterte: »Du bist mein Kind.« Chloe weinte im Schlaf, wusste, dass diese Frau ihre leibliche Mutter war.
Ein anderer Traum: Chloe schwamm in einem Bottich mit Gelatine. Überall waren Flossen. Sie griff nach einer, um sich daran festzuhalten, in der Annahme, es sei ein Delfin, aber es war ein Hai. Sie griff nach einer anderen, die tatsächlich zu einem Delfin gehörte, aber einem mit riesigen Zähnen, der sie fressen wollte. Chloe schrie auf, überzeugt, dass ihr letztes Stündlein geschlagen hatte. Sie ging unter, schluckte Gelatine. Überall waren Flossen, stießen zu, zwischen die Beine.
Als sie auftauchte, um Luft zu holen, hörte sie, wie jemand ihren Namen rief. Es war eine Frau, die in einem Boot saß. Als sich das Boot näherte, stellte sich heraus, dass es gar kein Boot war, sondern eine Torte. Die Frau beugte sich herab, um Chloe an Bord zu ziehen. Chloe weinte, wimmerte wie ein Säugling, der gerade erst das Licht der Welt erblickt hatte. Die Frau hievte Chloe ins Boot, rettete ihr das Leben. Chloe weinte vor lauter Glück, zu leben und kein Stern auf dem Dachboden zu sein.
Als sie aufwachte, musste sie sich immer wieder vor Augen halten, dass es nur ein Traum gewesen war. Sie wünschte, es gäbe einen Menschen, der sie aus diesem unheimlichen Labyrinth der Gefühle befreite. Ihre Mutter war unten, räumte Lebensmittel ein. Chloe rappelte sich hoch, stieg aus dem Bett. Mit schwerem Schritt tappte sie den Flur entlang, die Treppe hinunter. Ihre Mutter verstaute gerade verschiedene Gemüse im Kühlschrank.
»Hallo, mein
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