Tanz mit dem Engel
weiß nicht, aber du bist doch, was man erotisch nennen könnte, zumindest warst du das, bevor du zu alt wurdest. Aber du hast offenbar die Möglichkeit gehabt, dir dieses Bedürfnis auf die Art und Weise zunutze zu machen, wie man es sich zunutze machen soll.«
»Klingt sehr interessant.«
»Das ist kein Spaß, ich meine, daß das Nächstbeste oder Drittbeste irgendwie einspringt, damit die Befriedigung dennoch genügend ist.«
»Mhm.«
»In erster Linie ist es nicht das Physische, vielleicht ist es das genaue Gegenteil. Das Erlebnis wird größer ohne einen körperlichen Kontakt, es bleibt ohne Forderungen.«
Winter hörte zu, wartete, bekam ein Glas von Bölger, ohne es bestellt zu haben. Die Frauen waren ohne weitere Blicke gegangen.
»Manche von den armen Kerlen in den Vorführräumen bekämen eine Heidenangst, wenn sie lebendiges Fleisch im Arm halten müßten«, sagte Bölger. »Davor schrecken die armen Teufel zurück.«
»Vielleicht verstehe ich das«, sagte Winter.
»Aber der Appetit wächst, und da rede ich nicht von den schwersten Fällen, den exklusivsten Kunden. Ein nackter Körper im Bild genügt nicht.«
»Und es gibt keine Grenzen. Ist es das, worauf du hinauswillst?«
»Ich versuche zu erklären, daß manches der Wirklichkeit so nahe kommt, wie es geht, ohne tatsächlich ein Teil von ihr zu werden. So nahe an der Wirklichkeit, wie man nur kommen kann. Und da kann die Forderung nach Unterhaltung recht hoch werden. Schrecklich hoch. Furchtbar. Verstehst du?«
»Du hattest ein paar Namen«, sagte Winter.
»Nicht, wenn es um das geht, wovon wir hier sprechen«, verneinte Bölger.
»Man kann nie wissen.«
»Bei dir kann man nie wissen.«
»Aus dir bin ich auch nie recht klug geworden.«
Sie waren die letzten im Lokal. Die drei an dem Tisch in der Mitte des Lokals hatten Bölger zugewinkt und waren gegangen.
Bölger spielte jetzt Albert Ayler für Winter, die Klänge aus dem Tenorsaxophon wie ein eigenes Wesen darin: New York Eye und Ear Control, aufgenommen am 17. Juli 1964, als Erik Winter vier Jahre und drei Monate alt war.
»Wir haben dich nie verstanden, als du den Jazzklub am Rudebecks gegründet hast«, sagte Bölger als Kommentar zur Musik.
Winter hatte kleine Konzerte für die Schüler organisiert, die auf das private Gymnasium gehen konnten. Nach seiner Zeit war damit Schluß gewesen.
»Hörst du John Tchicais Alt hier?« fragte er, und Bölger schloß die Augen.
»Bin aus dir nie klug geworden«, sagte er. »Das Geld hat dich verdorben.«
Winter lächelte und sah auf die Uhr.
»Denkst du viel an die Zeit?« fragte er.
»Die Jugend? Nur wenn ich dich sehe«, sagte Bölger.
»Du lügst.«
»Ja.«
»Ich vermisse sie nie.«
»Kommt darauf an, was du meinst.«
»Ich meine alles«, sagte Winter. »Es war eine so unsichere Zeit, daß man vom einen zum andern Tag nicht wußte, was zum Teufel rings um einen geschah.« »Mhm.«
»Überhaupt keine Kontrolle über das Leben.«
»Und die hast du jetzt?«
»Nein.«
Der Jazz zerrte an den Wänden, riß an den Tischen. Der Rauch war auf den Boden gesunken, nachdem die letzten Gäste gegangen waren.
»Das da mit dem nicht wissen, was rings um einen geschieht, klingt wie eine gute Beschreibung deines Jobs«, sagte Bölger.
»Es ist bloß ein Job«, sagte Winter.
»Für dich? Den Teufel ist es das.«
Bölger langte hinter sich zu den Lichtschaltern und dämpfte das Licht über dem Tisch. In der Küche klapperte die Spülmaschine.
»Einer macht immer einen Fehler«, sagte Winter.
»Zum Beispiel die Bezirkskripo.«
»Früher oder später entdecken wir ihn und werden mit ihm fertig«, sagte Winter. »So läuft es immer ab.«
»Dann kann es aber zu spät sein.«
»Was hast du gesagt?«
»Es kann zu spät sein.«
»Zu spät? Für wen? Das Opfer oder die Behörde? Oder für die Allgemeinheit?«
Johan Bölger zuckte die Achseln.
»Früher oder später entdecken wir alle Fehler«, sagte Winter, »das heißt unsere eigenen, aber auch die anderer. So funktioniert das bei uns oder bei mir. Hat einer einen Fehler gemacht, entdecken wir ihn, und alle machen Fehler. Einen oder mehrere, aber uns reicht es mit einem.«
Bölger applaudierte still. Längst war ein neuer Tag angebrochen. Er gähnte, sah Winter an.
»Du hast deinen Traumberuf gefunden«, sagte er.
»Ja, sicher.«
»Und was passiert jetzt?«
»Wie?«
»Wann geht es richtig nach London?« »Übermorgen, glaube ich.«
»Es ist lange her, daß ich dort war.
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