Tanz mit dem Schafsmann
weißen Staub verwandelt. Eine weitere Person war im Bett gestorben – das einzige Skelett, das nicht vollständig war. Die linken Armknochen fehlten.
Ich schloss die Augen.
Was um Himmels willen soll das hier? Kiki, was willst du mir damit zeigen?
Ich hörte wieder Schritte. Sie kamen aus einem anderen Raum, aber ich konnte sie nicht genau lokalisieren. Es klang, als kämen sie aus keiner bestimmten Richtung, von keinem bestimmten Ort. Soweit ich erkennen konnte, führte der Raum nirgendwo mehr hin, es gab keinen weiteren Ausgang. Die Schritte waren noch eine Weile hörbar, dann verstummten sie. Die anhaltende Stille war so drückend, dass einem der Atem stockte. Ich wischte mir mit der Hand den Schweiß aus dem Gesicht. Kiki war mir abermals entkommen.
Ich verließ den Raum durch die Tür, durch die ich eingetreten war. Als ich mich ein letztes Mal umschaute, schimmerten die sechs Skelette weiß aus der bläulichen Dunkelheit hervor. Man hatte das Gefühl, sie würden gleich aufstehen. Als lauerten sie nur darauf, dass ich verschwand. Vielleicht ging dann der Fernseher an, und heiße Speisen wurden aufgetragen. Ich schloss leise die Tür hinter mir, um ihre Lebensgewohnheiten nicht länger zu stören, und ging die Treppe hinunter. In das leere Büro zurück. Dort sah es genauso aus wie vorher. Keine Menschenseele. Die vergilbten Zeitungen lagen unverändert auf dem Boden verstreut.
Ich trat ans Fenster und schaute hinunter auf die Straße. Die Laternen brannten hell, und die Lieferwagen parkten immer noch am Bürgersteig. Auch dort war es menschenleer. Die Sonne war inzwischen vollständig untergegangen.
Da erblickte ich auf dem staubigen Fensterbrett einen Zettel in der Größe einer Visitenkarte, auf dem mit Kugelschreiber eine siebenstellige Ziffer geschrieben stand. Vermutlich eine Telefonnummer. Weder das Papier noch die Schrift war verblichen, beides sah relativ neu aus. Die Nummer war mir nicht bekannt. Auf der Rückseite stand nichts.
Ich steckte den Zettel ein und ging auf den Korridor.
Dort blieb ich einen Moment stehen und lauschte.
Nichts regte sich. Nicht der geringste Laut. Es herrschte eine gespenstische Stille. Wie ausgestorben. Wie bei einem toten Telefon, dessen Kabel durchtrennt ist. Ein Schweigen, das nirgendwohin führte.
Ich gab auf und ging die Treppen hinunter. In der Eingangshalle hielt ich nach dem Hausmeister Ausschau, um ihn nach den Büros zu fragen, aber er war nicht auffindbar. Erst wollte ich noch etwas warten, aber allmählich begann ich mir wegen Yuki Sorgen zu machen. Wie lange mochte ich sie wohl allein gelassen haben? Zwanzig Minuten? Eine Stunde? Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Die Nacht war bereits hereingebrochen, und die Gegend hier war auch nicht gerade die sicherste. Ich konnte Yuki nicht so lange unbeaufsichtigt lassen. Ich musste weg hier. Es hatte keinen Sinn mehr weiter zu suchen.
Ich merkte mir den Namen der Straße und eilte zu unserem Wagen zurück. Yuki lag quer auf den Sitzen und hörte mit verstockter Miene Musik. Als ich gegen die Scheibe klopfte, schaute sie auf und öffnete die Tür.
»Tut mir leid«, sagte ich.
»Andauernd wurde ich von jemandem belästigt. Sie haben gebrüllt, gegen die Scheibe gehämmert oder den ganzen Wagen durchgerüttelt«, sagte sie apathisch. Dann schaltete sie das Radio aus. »Ich hatte echt Schiss.«
»Tut mir leid«, entschuldigte ich mich nochmals.
Sie sah mich an. Ihr Blick schien zu gefrieren. Die Iris ihrer Augen verlor plötzlich die Farbe, und über ihr Gesicht lief ein leichtes Zittern wie über die Oberfläche eines Sees, wenn Blätter darauf fallen. Ihre Lippen bewegten sich langsam, formten unausgesprochene Worte. Wo bist du eigentlich gewesen?
»Keine Ahnung«, erwiderte ich. Meine Stimme schien aus einer völlig anderen Dimension zu kommen. Sie klang genauso seltsam wie die Schritte vorhin. Ich holte ein Taschentuch hervor und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Er lag wie erkaltetes Wachs auf meinem Gesicht. »Ich weiß es wirklich nicht. Was habe ich eigentlich gemacht?«
Yuki kniff die Augen zusammen und berührte meine Wange. Ihre Fingerspitzen waren samtig weich. Sie ließ ihre Hand dort liegen und sog die Luft durch die Nase ein, als wollte sie mich beschnüffeln. Ihre zarten Nüstern schienen sich dabei ganz leicht aufzublähen. »Du hast etwas gesehen, nicht wahr?«
Ich nickte.
»Aber du kannst nicht sagen, was es ist. Es lässt sich nicht in Worte fassen. Man kann es nicht
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