Tanz mit dem Schafsmann
erklären, niemandem. Aber ich weiß Bescheid.« Sie lehnte sich an mich und schmiegte sanft ihre Wange an meine. Zehn, fünfzehn Sekunden blieb sie unbeweglich so sitzen. »Du Armer«, sagte sie dann.
»Warum nur?« Ich musste unwillkürlich lachen, obwohl mir gar nicht danach zumute war. »Wie kommt das? Ich bin doch eigentlich der normalste Mensch von der Welt. Eher praktisch veranlagt. Wieso passieren mir dann immer solche merkwürdigen Dinge?«
»Tja, warum wohl? Mich darfst du nicht fragen. Ich bin schließlich das Kind und du der Erwachsene.«
»Allerdings«, sagte ich.
»Aber ich verstehe deine Empfindungen.«
»Die verstehe ja nicht mal ich.«
»Es ist eine Art von Ohnmacht«, erklärte sie. »Man ist von etwas entsetzlich Großem an der Nase herumgeführt worden und weiß überhaupt nicht, was man machen soll.«
»So in etwa.«
»In solchen Momenten brauchen Erwachsene einen Drink.«
»Da hast du Recht«, sagte ich.
Wir gingen in die Halekulani-Bar, nicht zu der am Pool, sondern diesmal gingen wir hinein. Zur Abwechslung bestellte ich einen Martini, Yuki trank Lemon-Soda. Noch waren wir die einzigen Gäste. Ein Pianist mittleren Alters mit schütterem Haar und bitterernster Rachmaninoff-Miene spielte am Flügel das Standardrepertoire herunter: Stardust – But not for me – Moonlight in Vermont. Er spielte makellos, jedoch ohne Glanz. Dann schloss er mit einem ernsten Prélude von Chopin, das er wirklich virtuos vortrug. Als Yuki klatschte, rang er sich sogar ein Zwei-Millimeter-Lächeln ab, bevor er sich zurückzog.
Beim dritten Martini schloss ich die Augen und rief mir den Raum ins Gedächtnis. Es war eine Szene wie aus einem Alptraum, aus dem man schweißgebadet erwacht, um dann aufatmend festzustellen, dass es nur ein Traum war. Aber dies war kein Traum, ich wusste es und Yuki auch. Sie wusste, dass ich etwas gesehen hatte. Sechs Skelette. Was hatten sie zu bedeuten? Jenes Skelett mit dem fehlenden linken Arm zum Beispiel, das offensichtlich Dick North sein sollte. Und wer waren die anderen fünf?
Was versuchte Kiki mir damit zu sagen?
Mir fiel der Zettel mit der Telefonnummer ein, den ich auf dem verstaubten Fensterbrett gefunden hatte. Ich holte ihn hervor und ging in eine Telefonzelle, um die Nummer zu wählen. Es hob niemand ab. Zu hören war nur das endlos hallende Klingelzeichen, das wie ein Senkblei im bodenlosen Nichts hing. Seufzend kehrte ich zur Bar zurück.
»Falls ich noch einen Platz bekomme, würde ich gerne morgen nach Japan zurückfliegen«, sagte ich zu Yuki. »Ich habe meinen Aufenthalt hier etwas überzogen. Es waren herrliche Ferien, aber nun ist es an der Zeit, an die Rückkehr zu denken. Ich habe zu Hause einiges zu erledigen.«
Yuki nickte. Sie hatte es schon gewusst, bevor ich den Mund aufmachte. »Ist in Ordnung. Mach dir wegen mir keine Sorgen. Tu, was du willst.«
»Und du? Bleibst du hier? Oder kommst du mit?«
Yuki zuckte die Schultern. »Ich werde eine Weile bei Mama wohnen. Ich mag noch nicht zurück. Mama hat bestimmt nichts dagegen.«
Ich nickte und leerte mein Glas.
»Gut, ich bringe dich morgen nach Makaha. Bei der Gelegenheit werde ich mich dann gleich von deiner Mutter verabschieden.«
Anschließend gingen wir in ein Seafood-Restaurant in der Nähe des Aloha-Tower und zelebrierten unser letztes Abendessen. Yuki aß Hummer, und ich bestellte nach einem Whiskey gebackene Austern. Wir waren ziemlich wortkarg. Ich fühlte mich noch so benommen, als würde ich jeden Moment wegdämmern, den Mund voller Austern. Um selbst zum Skelett zu werden.
Yuki schaute mich hin und wieder an. Als wir mit dem Essen fertig waren, sagte sie: »Du solltest dich gleich hinlegen. Du siehst ganz elend aus.«
Als ich in meinem Zimmer war, goss ich mir ein Glas Wein ein und schaltete den Fernseher an. Die Yankees gegen die Orioles. Ich hatte keine besondere Lust auf Baseball, der Fernseher sollte einfach nur laufen. Er schuf eine Verbindung zur Realität.
Ich trank, bis ich müde wurde. Dann fiel mir plötzlich der Zettel mit der Telefonnummer ein, und ich versuchte es erneut. Wieder keine Antwort. Nach fünfzehn Mal Klingeln legte ich auf. Ich setzte mich wieder aufs Sofa und blickte auf den Bildschirm. Winfield begab sich gerade in die Schlägerbox, als plötzlich etwas in meinem Bewusstsein aufblitzte. Etwas.
Den Blick auf den Bildschirm geheftet, dachte ich über dieses Etwas nach.
Etwas ähnelte etwas anderem, war mit ihm verbunden.
Du spinnst, sagte ich mir.
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