Tanz mit dem Schafsmann
denke, all die Büffelei für Aufnahmeprüfungen, die langweiligen Interessengruppen, die sinnlosen Wettbewerbe, Gruppenzwänge und heuchlerischen Regeln sind partout nichts für sie, entsprechen nicht ihrem Charakter. Man sollte sie wirklich nicht dazu zwingen. Es gibt eben Menschen, die kommen allein viel besser zurecht. Wäre es nicht sinnvoller, herauszufinden, was Yukis Talent ist, und es zu fördern? Ich bin davon überzeugt, dass sie gute Anlagen besitzt, die man bestimmt zur Entfaltung bringen kann. Vielleicht entschließt sie sich dann von sich aus, wieder zur Schule zu gehen. Das wäre natürlich auch gut. Die Hauptsache aber ist, dass man ihr die Entscheidung überlässt.«
»Tja«, sagte Ame nach kurzem Überlegen und nickte. »Sie haben vermutlich Recht. Ich bin auch kein Gruppenmensch und habe oft den Schulbesuch verweigert. Ich weiß also, wovon Sie reden.«
»Na, wenn Sie das verstehen, was gibt’s da noch zu überlegen? Wo liegt das Problem?«
Sie schüttelte mehrmals den Kopf, sodass ihre Halswirbel knackten.
»Es gibt eigentlich kein Problem, mir fehlt lediglich das Selbstvertrauen einer richtigen Mutter. Darum traue ich mich auch nicht, ihr zu sagen, mach, was du willst, egal, was die Leute denken. Es macht nichts, wenn du nicht zur Schule gehst. Bei mangelndem Selbstvertrauen gibt man schnell klein bei. Ich frage mich dann, ob es sozial betrachtet nicht doch falsch ist, die Schule zu verweigern.«
Sozial? dachte ich. »Ich kann natürlich für nichts garantieren, aber wer weiß denn schon, was die Zukunft bringt? Es könnte auch alles schief laufen. Aber ich glaube, wenn Sie Ihrer Tochter – ob nun als Mutter oder als Freundin – im Alltag öfter mal liebevoll zeigen, dass Sie zueinander gehören, und ihr einen gewissen Respekt entgegenbringen, dann schafft sie es schon aus eigener Kraft, zumal sie einen guten Instinkt besitzt.«
Ame stand schweigend da, die Hände in den Taschen ihrer Shorts. Dann sagte sie: »Sie verstehen wirklich, was in meiner Tochter vorgeht. Wie kommt das?«
Weil ich mich darum bemühe, sie zu verstehen, hätte ich am liebsten gesagt, ließ es aber sein. Ame sagte, sie wolle mir als Zeichen ihrer Dankbarkeit etwas schenken. Ich sagte, ich erhielte von ihrem Exgatten bereits genug, mehr als genug.
»Aber ich möchte es gern tun. Er ist er, und ich bin ich. Ich möchte mich gern erkenntlich zeigen. Und wenn ich es jetzt nicht tue, vergesse ich es wieder.«
»Das wäre ja dann auch nicht so schlimm«, sagte ich lachend.
Sie setzte sich auf eine Bank am Ende des Pfades, holte die Salems aus ihrer Brusttasche und steckte sich eine an. Die Packung war ganz zerknautscht. Die gewohnten Vögel trillerten ihre komplizierten Tonfolgen.
Ame saß eine Weile schweigend da und rauchte. Das heißt, sie nahm nur zwei, drei Züge und ließ den Rest der Zigarette zwischen ihren Fingern verglimmen und die Asche auf den Rasen fallen. Es wirkte auf mich wie ein Symbol der Vergänglichkeit – der Leichnam der Zeit. In ihrer Hand starb die Zeit, indem sie zu weißer Asche verbrannte. Unterdessen lauschte ich den Vögeln und beobachtete die Gärtner, die in ihren Wägelchen umhersurrten. Das Wetter klärte sich langsam auf, obwohl man in der Ferne noch ein schwaches Donnergrollen hörte, aber die drückende, graue Wolkendecke riss bereits auf und ließ wieder die gewohnte, grelle Helligkeit durch. Ame saß ohne Sonnenbrille in dem gleißenden Licht und trug wie üblich ihr kurzärmliges, robustes Arbeitshemd, in dessen Brusttasche ein Kuli, ein Filzschreiber, ein Feuerzeug und ihre Zigaretten steckten. Weder das grelle Licht noch die Hitze schienen ihr etwas auszumachen, obwohl ihr ein paar Schweißtropfen den Nacken herunterliefen und dunkle Flecken auf dem Hemd hinterließen. Es kümmerte sie nicht. Vielleicht war sie zu konzentriert oder zu zerstreut, um es wahrzunehmen. So vergingen zehn Minuten, substanzlose zehn Minuten raumzeitlicher Bewegung. Das Phänomen Zeit schien für Ames Bewusstsein nicht zu existieren. Oder es zählte jedenfalls nicht zu den zentralen Momenten ihres Lebens, sondern war nebensächlich. Für mich war das anders. Ich musste mein Flugzeug bekommen.
»Ich muss langsam los«, sagte ich mit einem Blick auf meine Uhr. »Ich muss den Leihwagen noch zurückgeben und möchte rechtzeitig am Flughafen sein.«
Sie unternahm einen Versuch, mich gezielt wahrzunehmen, und sah mich geistesabwesend an. Ich kannte diesen Ausdruck von Yuki. Als müsste sie einen
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