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Tanz mit dem Schafsmann

Tanz mit dem Schafsmann

Titel: Tanz mit dem Schafsmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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mir die Nachricht überbracht. Ich habe ihn gebeten, Dicks Frau zu informieren. Sie hat dann alles in die Hände genommen. Ich hatte schließlich weder eine legale noch eine berufliche Beziehung mit Dick. Dann rief seine Frau hier an. Sie hat kaum etwas gesagt, nur geweint. Keine Vorwürfe, nichts.«
    Ich nickte. Ein ganz gewöhnlicher Verkehrsunfall.
    Vermutlich würde Ame sich in drei Wochen nicht mehr daran erinnern, dass es in ihrem Leben je einen Menschen namens Dick North gegeben hatte. Sie war eine vergessliche Frau, und er ein Mann, den man leicht vergisst.
    »Kann ich Ihnen noch irgendwie behilflich sein?«, fragte ich.
    Sie schaute kurz auf und dann wieder zu Boden. Ein flüchtiger, flacher Blick. Sie verfiel ins Grübeln, was vermutlich länger dauern würde. Ihr Blick wurde vorübergehend stumpf und nahm dann wieder etwas Glanz an. Als würde sie in die Ferne taumeln, sich plötzlich besinnen und umkehren.
    »Dicks Sachen«, murmelte sie. »Ich hatte doch seiner Frau versprochen, sie ihr zu schicken. Das habe ich doch schon erwähnt?«
    »Ja.«
    »Nun, in der Nacht habe ich seine Sachen zusammengesucht und alles in einen Koffer gepackt – Manuskripte, eine Schreibmaschine, Bücher, Kleidung. Es ist nicht viel. Er war eben ein bescheidener Mensch. Es ist mir zwar unangenehm, aber könnten Sie die Sachen zu seiner Frau bringen?«
    »Sicher. Wo wohnt denn seine Familie?«
    »Irgendwo in Gôtokuji«, sagte Ame, »genauer weiß ich es nicht. Könnten Sie das herausfinden? Vielleicht steht etwas auf seinem Koffer.«
    Der Koffer befand sich im ersten Stock in einem Zimmer am Ende des Gangs. Auf dem Kofferschild stand tatsächlich in fein säuberlicher Handschrift Dicks Name und Adresse. Yuki hatte mich hierhergeführt. Es war eine enge Dachkammer, aber gemütlich. Früher habe die Haushälterin in dem Kämmerchen gewohnt, erklärte Yuki. Dick North hatte auch hier penibel Ordnung gehalten. Auf dem kleinen Schreibtisch lagen fünf scharf gespitzte Bleistifte und ein Radiergummi – ein Stillleben. Der Kalender an der Wand enthielt Einträge in penibler Handschrift. Yuki lehnte schweigend am Türrahmen und musterte das Zimmer. Die Luft stand still. Nur Vogelzwitschern war zu hören. Ich erinnerte mich an das Ferienhaus in Makaha. Auch dort war es so still gewesen, dass man die Vögel singen hörte.
    Ich schleppte den Koffer nach unten. Wegen der Bücher und Manuskripte darin war er schwerer, als er aussah. Eine weitere Erinnerung an das Ende von Dick North.
    »Ich werde ihn gleich abliefern«, versicherte ich Ame. »So etwas soll man so schnell wie möglich hinter sich bringen. Kann ich sonst noch etwas tun?«
    Ame schaute unsicher zu Yuki hinüber, doch die zuckte nur mit den Schultern.
    »Es ist kaum etwas zu essen im Haus«, sagte sie leise. »Er war ja gerade zum Einkaufen unterwegs, als es passierte …«
    »Schon klar. Ich gehe etwas besorgen«, sagte ich.
    Ich inspizierte den Kühlschrank und machte eine Liste der nötigsten Dinge. Dann fuhr ich hinunter in den Ort zu dem Supermarkt, vor dem Dick North verunglückt war, und besorgte einen Vorrat für vier, fünf Tage. Ich packte die Lebensmittel in Frischhaltefolie und verstaute sie im Kühlschrank.
    Ame dankte mir. Keine Ursache, erwiderte ich. Es kam mir so vor, als hätte ich nur das erledigt, was Dick North nicht mehr hatte zu Ende bringen können.
    Die beiden Frauen standen auf dem steinernen Wall, um mich zu verabschieden. Genau wie damals in Makaha, nur winkte diesmal keiner. Das war Dicks Rolle gewesen. Die beiden Frauen standen nur reglos da und schauten auf mich herunter. Eine feierliche, fast mythische Szene. Ich verstaute den grauen Plastikkoffer auf dem Rücksitz und setzte mich ans Steuer. Sie blickten mir nach, bis ich um die Kurve war. Die Sonne ging unter, und das Meer begann sich orange zu färben. Wie würden die beiden wohl die kommende Nacht verbringen?
    Ich dachte an das einarmige Skelett, das ich in dem unheimlichen, düsteren Zimmer in Honolulu Downtown gesehen hatte. Es war also tatsächlich Dick North gewesen. Anscheinend waren dort die Toten versammelt. Sechs Skelette – sechs Tote. Wer mochten die restlichen fünf sein? Eines davon war vielleicht Ratte, mein verstorbener Freund. Ein weiteres musste May sein. Blieben noch drei.
    Blieben noch drei.
    Weshalb hatte Kiki mich dorthin geführt? Warum wollte sie mir diese sechs Toten zeigen?
    Ich fuhr hinunter nach Odawara und von dort auf die Autobahn Tokyo-Nagoya. Ich nahm die

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