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Tanz mit dem Schafsmann

Tanz mit dem Schafsmann

Titel: Tanz mit dem Schafsmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Fragmente, die wild durcheinander flogen. Ich konnte das, was Yuki gesagt hatte, nur registrieren, es weder glauben noch anzweifeln. Ich nahm ihre Worte nur in mich auf. Sie deuteten nichts als eine Möglichkeit an. Doch die Kraft, die in dieser Möglichkeit steckte, war niederschmetternd und fatal. Die Möglichkeit, die sie angesprochen hatte, sprengte die vage Ordnung, die ich mir in den letzten Monaten zurechtgelegt hatte, völlig. Es war zwar noch keine deutlich definierte, gesicherte Ordnung gewesen, aber doch eine Ordnung, die sich zu festigen begonnen hatte. Aber jetzt war sie mit einem Schlag zerstört.
    Die Möglichkeit besteht. In dem Moment, als ich das dachte, ging etwas zu Ende. Subtil, und doch eindeutig. Aber was? Was war dieses Etwas? Ich wollte nicht weiter darüber nachdenken. Nicht jetzt, später. Fest stand, dass ich wieder allein war. Hoffnungslos allein saß ich mit einem dreizehnjährigen Mädchen an einem verregneten Strand.
    Yuki drückte sanft meine Hand.
    Ich weiß nicht, wie lange ihre Hand auf meiner lag. So zierlich und warm, fast unwirklich. Diese leise Berührung war nichts als eine alte Erinnerung, die auflebte. Eine Erinnerung. Wärme. Doch sie brachte keine Erlösung.
    »Gehen wir«, sagte ich. »Ich bringe dich nach Hause.«
    Ich fuhr nach Hakone zurück. Keiner von uns sprach ein Wort. Da das Schweigen unerträglich wurde, schob ich eine Kassette ein. Es lief Musik, aber ich hörte sie nicht. Ich konzentrierte mich aufs Fahren. Auf die Bewegung meiner Hände und Füße, auf das Schalten, das Lenken. Die Scheibenwischer schleiften monoton hin und her.
    Ich verabschiedete mich von Yuki schon unten an der Treppe, da ich Ame nicht begegnen wollte.
    »Hör mal«, sagte Yuki durchs Fenster, die Arme fest verschränkt, da sie offensichtlich fror. »Du musst nicht alles glauben, was ich gesagt habe. Ich habe es nur gesehen, mehr nicht. Ich weiß überhaupt nicht, ob es die Wahrheit ist. Bitte fang jetzt nicht an, mich zu hassen. Wenn du mich hasst, bin ich verloren.«
    »Ich hasse dich doch nicht«, sagte ich und versuchte zu lächeln. »Und ich glaube auch nicht alles, was du gesagt hast. Irgendwann kommt die Wahrheit in jedem Fall ans Licht. Sobald der Nebel sich verzieht. So viel weiß ich. Und angenommen, es stimmt, dann ist die Wahrheit eben zufällig durch dich herausgekommen. Du kannst absolut nichts dafür. Egal, was dabei herauskommt, ich muss mir Gewissheit verschaffen. Sonst bleibt alles unerledigt.«
    »Willst du ihn treffen?« fragte Yuki.
    »Selbstverständlich. Und ich werde ihn direkt fragen. Das ist der einzige Weg.«
    Yuki zog die Schultern hoch. »Und du bist nicht wütend auf mich?«
    »Nein, natürlich nicht«, erwiderte ich. »Warum denn auch? Du hast schließlich nichts verbrochen.«
    »Du warst wirklich so ein netter Kerl«, sagte sie. Wieso redete sie in der Vergangenheitsform? »Ich habe noch nie jemanden wie dich getroffen.«
    »Und ich habe noch nie ein Mädchen wie dich getroffen.«
    »Leb wohl«, sagte Yuki und sah mir fest in die Augen. Sie druckste herum, als wolle sie noch etwas sagen oder nach meiner Hand greifen oder mich auf die Wange küssen. Natürlich tat sie nichts dergleichen.
    Die Möglichkeiten, die in ihrem Zaudern lagen, schwebten noch in der Luft, als ich auf der Heimfahrt war. Ich hörte unverständliches Gedudel und konzentrierte mich auf die Straße. Als ich von der Autobahn Tokyo–Nagoya abfuhr, hörte es auf zu regnen. Ich vergaß jedoch, die Scheibenwischer auszustellen, bis ich vor meinem Haus hielt. Zwar hatte ich bemerkt, dass es nicht mehr regnete, aber die Scheibenwischer waren mir entgangen. Mir schwirrte der Kopf. Ich musste etwas unternehmen. Ich blieb noch eine Zeit lang am Steuer sitzen und stierte vor mich hin. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis ich meine Hände vom Lenkrad lösen konnte.

39
    Es brauchte seine Zeit, bis ich mich einigermaßen gefasst hatte.
    Zuallererst stand ich vor dem Problem, ob ich dem, was Yuki gesagt hatte, Glauben schenken sollte oder nicht. Ich analysierte die Sache wie eine pure Möglichkeit, indem ich alle emotionalen Faktoren, soweit ich sie überblicken konnte, sorgsam außer Acht ließ. Das war keine sehr schwierige Aufgabe, meine Gefühle waren ohnehin von Anfang an so taub wie nach einem Wespenstich. Die Möglichkeit besteht. Mit der Zeit hatte sie sich in mir immer mehr aufgebläht, bis sie schließlich zu einer Wahrscheinlichkeit herangewuchert war. Sie übte einen Sog aus, dem man

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