Tanz mit dem Schafsmann
Angler starrten unverdrossen auf den Pazifik. Was ist eigentlich am Angeln so interessant? Man fängt doch bloß Fische. Was haben sie wohl davon, den ganzen Tag am Ufer im Regen zu stehen und aufs Meer zu glotzen? Na ja, eben eine Frage des Geschmacks. Genauso wie es nicht nach jedermanns Geschmack ist, neben einer neurotischen Dreizehnjährigen im Regen zu sitzen.
»Du … dein Freund …«, hob Yuki leise an. Ihre Stimme klang brüchig.
»Mein Freund?«
»Ja, der aus dem Film eben.«
»Sein richtiger Name ist Gotanda«, sagte ich. »So wie die Station an der Ymanote-Linie, eine vor Meguro beziehungsweise eine nach Osaki.«
»Er hat die Frau umgebracht.«
Ich kniff die Augen zusammen und schaute Yuki an. Sie sah unheimlich erschöpft aus. Sie konnte kaum atmen; ihre Schultern hoben und senkten sich ganz unregelmäßig, als hätte man sie gerade knapp vor dem Ertrinken gerettet. Was hatte sie da eben gesagt? Ich verstand überhaupt nichts. »Umgebracht? Wen?«
»Die Frau. Mit der er am Sonntagmorgen geschlafen hat.«
Ich verstand immer noch nicht und starrte sie fassungslos an. Was meinte sie damit? In meinem Kopf herrschte ein heilloses Durcheinander. Irgendwo war eine falsche Kraft am Wirken, deswegen konnte die Strömung ihre eigentliche Richtung nicht beibehalten. Doch von woher und wie war die falsche Kraft hinzugekommen? Halb unbewusst fing ich an zu lächeln. »Aber in dem Film ist doch niemand umgebracht worden. Du musst dich irren.«
»Ich spreche nicht von dem Film, sondern ich meine in der Wirklichkeit. Er hat sie tatsächlich umgebracht. Ich weiß es genau«, sagte Yuki und umklammerte meinen Arm. »Es hat mir furchtbar Angst gemacht. Als würde mir jemand etwas Schweres in den Magen stoßen. Ich konnte kaum atmen vor Beklemmung. Das besagte Etwas ist wieder über mich gekommen. Ich weiß es, ich spüre es ganz deutlich. Dein Freund hat diese Frau umgebracht. Es ist wahr, glaub mir.«
Endlich begriff ich, wovon sie sprach. Plötzlich lief es mir eiskalt über den Rücken. Ich brachte kein Wort heraus. Wie versteinert saß ich neben Yuki im Regen und starrte sie an. Was sollte ich tun? Alles war auf fatale Weise verbogen und verzerrt, fiel mir aus den Händen, glitt mir durch die Finger.
»Tut mir leid. Ich hätte vielleicht besser den Mund gehalten«, sagte Yuki. Sie seufzte tief und ließ meinen Arm los. »Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht genau. Ich fühle zwar, dass es wahr ist, aber ich habe keine Gewissheit, ob es sich wirklich um eine reale Tatsache handelt. Und wahrscheinlich bist du genauso böse auf mich und hasst mich dafür wie die anderen, wenn ich darüber spreche. Aber ich konnte es nicht zurückhalten. Ich musste es dir sagen. Ob es nun wahr ist oder nicht, ich kann es deutlich sehen. Ich kann es nicht für mich behalten. Es macht mir Angst, schreckliche Angst. Allein halte ich das nicht aus. Bitte ärgere dich nicht über mich. Wenn du mich jetzt beschimpfst, bin ich erledigt.«
»Hör mal, ich schimpfe doch gar nicht. Erzähl jetzt mal ganz in Ruhe«, sagte ich zu ihr und nahm sanft ihre Hand. »Du konntest es also sehen?«
»Ja, ganz deutlich. Das erste Mal, dass ich es ganz klar gesehen habe. Der Typ hat sie umgebracht, die Frau aus dem Film. Erwürgt. Dann hat er die Leiche in den Wagen gepackt und sie ganz weit weggebracht. Es war dieses italienische Auto, mit dem wir mal unterwegs waren. Es gehört doch ihm, nicht wahr?«
»Stimmt, es ist sein Wagen«, erwiderte ich. »Was hast du noch gesehen? Denk in Ruhe nach. Erzähl mir alles, was dir einfällt, jede Kleinigkeit.«
Sie hob den Kopf von meiner Schulter und drehte ihn vorsichtig ein paar Mal hin und her. »Viel kann ich nicht erkennen. Der Geruch von Erde. Eine Schaufel. Nacht. Vogelzwitschern. Das ist alles. Er hat die Frau erwürgt, im Auto weggebracht und begraben. Mehr weiß ich auch nicht. Es mag vielleicht komisch klingen, aber es hatte nichts Böses an sich. Es wirkte nicht einmal wie ein Verbrechen, eher wie eine Art von Zeremonie. Es verlief alles ganz ruhig. Wie er sie umbrachte, wie sie starb – alles geschah mit einer solchen Seelenruhe. Einer sonderbaren Ruhe allerdings. Schwer zu beschreiben. So ruhig wie am Ende der Welt.«
Ich hielt die Augen eine Weile geschlossen. Es gelang mir nicht, meine Gedanken zu sammeln. Ich wollte bei der Sache bleiben, aber es ging nicht. Alle Dinge, Ereignisse, Sinneseindrücke von dieser Welt, die in meinem Hirn gespeichert waren, zerbarsten in klitzekleine
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