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Tanz mit dem Schafsmann

Tanz mit dem Schafsmann

Titel: Tanz mit dem Schafsmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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umgebracht. Als trüge ich die Schuld an ihrem Tod.«
    Wieder verging eine halbe Ewigkeit, in der niemand etwas sagte und Gotanda auf seine Hände starrte.
    »Du bist einfach überarbeitet, Gotanda«, sagte ich. »Wahrscheinlich hast du niemanden getötet. Kiki ist nur irgendwohin verschwunden, wie bei mir damals. Das wäre nicht das erste Mal. Du neigst im Moment zu Schuldgefühlen und beziehst alles Mögliche auf dich.«
    »Nein, das stimmt nicht. So einfach ist es leider nicht. Wahrscheinlich habe ich Kiki getötet. May wohl nicht, aber Kiki schon, glaube ich. Ich spüre es noch in den Händen, dass ich sie erwürgt habe. Auch das Gewicht der Erde auf der Schaufel. Ich habe sie umgebracht.«
    »Aber warum? Das ergibt doch keinen Sinn, oder?«
    »Keine Ahnung«, sagte er. »Vielleicht aus einem Selbstzerstörungstrieb heraus – dazu habe ich immer schon geneigt. Es ist eine Art Stress. Es passiert immer dann, wenn die Kluft zwischen mir und der Person, die ich spiele, zu weit aufreißt. Dann stehe ich daneben und sehe diesen Riss tatsächlich vor mir – so wie bei einem Erdbeben der Boden aufreißt und auseinander klafft. Ein tiefer, dunkler Spalt, schwindelerregend tief. In solchen Momenten überkommt mich der unbewusste Drang, etwas zu zerstören. Ich ertappe mich dabei, dass ich es tue. Ich habe das schon oft erlebt, seit meiner Kindheit. Ich muss etwas kaputt schlagen, zerbrechen, zertrampeln. Bleistifte, Gläser, Plastikmodelle. Warum, weiß ich nicht. Natürlich tue ich es nicht vor anderen, nur wenn ich ganz allein bin. In der Grundschule habe ich sogar einmal einen Mitschüler eine Klippe hinuntergeschubst. Ich weiß nicht, was in solchen Momenten in mir vorgeht. Was ich getan habe, wird mir immer erst hinterher bewusst. Die Klippe war übrigens nicht sehr hoch, der Junge hat sich damals nur leicht verletzt. Er hielt es für einen Unfall. Man rempelt sich ja öfter mal aus Versehen an. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass ich es absichtlich getan habe, aber ich weiß, dass es so war. Ich habe ihn absichtlich mit meinen eigenen Händen hinuntergestoßen. Es gab dann noch eine Menge anderer Vorfälle dieser Art. Als ich aufs Gymnasium ging, habe ich mehrmals Briefkästen angezündet, brennende Lumpen durch den Schlitz geworfen. Aus purer Niedertracht. Völlig unsinnig, aber ich habe es getan. Und erst hinterher gemerkt, was ich da getan hatte. Ich kann nicht anders. Mir ist, als würde ich zu mir zurückfinden, indem ich solche gemeinen, sinnlosen Dinge tue. Ich handle völlig unbewusst. Aber ich kann mich noch genau daran erinnern, wie es sich angefühlt hat. Jede einzelne Empfindung ist tief in meine Hände eingedrungen, ich kann sie nicht reinwaschen. Das werde ich niemals los, bis ich sterbe. Was für ein schreckliches Leben! Es ist kaum mehr zu ertragen.«
    Ich seufzte. Gotanda schüttelte den Kopf.
    »Ich kann mir nicht einmal Gewissheit verschaffen«, fuhr er fort. »Es gibt keine Beweise dafür, dass ich Kiki getötet habe. Keine Leiche. Keine Schaufel. Keine verschmutzte Hose. Keine Blasen an den Händen. Vielleicht bekommt man auch keine, wenn man jemanden vergräbt. Ich weiß nicht einmal mehr, wo ich sie vergraben habe. Nehmen wir an, ich ginge zur Polizei, um ein Geständnis abzulegen, wer würde mir glauben? Ohne Leiche kein Mörder. Ich kann für meine Tat nicht einmal büßen. Kiki ist verschwunden, nur das weiß ich mit Sicherheit. Ich wollte es dir schon oft anvertrauen, aber ich konnte nicht. Ich fürchtete, es würde die Vertrautheit zwischen uns kaputt machen. Ich fühle mich so wohl, wenn ich mit dir zusammen bin. Dann lässt das Gefühl von Zerrissenheit nach, die Kluft schließt sich. Du weißt nicht, wie viel mir das bedeutet. Ich wollte unsere Freundschaft nicht aufs Spiel setzen. Also habe ich es jedes Mal aufgeschoben – beim nächsten Mal … später vielleicht … Immer wieder, bis zu diesem Augenblick. Ich hätte es dir längst gestehen müssen.«
    »Was heißt, gestehen? Es gibt doch keine Beweise, wie du sagst«, antwortete ich.
    »Es geht dabei nicht um Beweise. Ich hätte es dir von mir aus sagen sollen, aber ich habe es verschwiegen. Das ist das Problem.«
    »Aber selbst, wenn es wirklich wahr ist, wenn sich herausstellt, dass du Kiki tatsächlich getötet hast, wäre es kein vorsätzlicher Mord.«
    Er schaute auf seine Handflächen. »Nein. Ich hatte keinen Grund dazu. Ich habe sie gemocht. Und in gewissem Sinne waren wir ein wenig befreundet. Wir haben viel

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