Tanz mit dem Schafsmann
komplizierter. Und überhaupt, inwieweit war Sex ein mentaler Vorgang, und wann fing er an technisch zu werden? Wie viel war davon real und wie viel Schauspielerei? War ein hinlängliches Vorspiel eher eine mentale Frage? Empfand Kiki wirklich Lust, wenn sie mit mir schlief? Hatte sie in dem Film tatsächlich nur gespielt? Oder erregte es sie, wenn Gotandas Finger über ihren Rücken glitten?
Das Reale und das Imaginäre gerieten heillos durcheinander.
Nehmen wir Gotanda. Seine Doktorrolle war reine Fiktion. Trotzdem wirkte er echter als alle Ärzte, die ich kannte. Denn er strahlte Zuverlässigkeit aus, man vertraute ihm.
Was war mein eigenes Image? Hatte ich überhaupt eins?
Tanzen, hatte der Schafsmann gesagt. Brillant tanzen, dass alle dich bewundern.
Hieß das, dass ich auch ein Image besaß? Und wenn ja, würde ich damit andere Leute beeindrucken können? Na ja, schätzte ich, wahrscheinlich mehr als mit meiner realen Person.
Wenn ich müde wurde, wusch ich noch die Gläser ab und putzte mir die Zähne, dann ging ich schlafen. Und am nächsten Morgen brach ein neuer Tag an. Die Zeit vergeht wie im Flug. Es ist bereits Anfang April. Flüchtig, verletzlich und schön wie eine Passage von Truman Capote – die ersten Apriltage.
Am Vormittag ging ich zu Kinokuniya, um dressierten Salat zu besorgen. Außerdem kaufte ich ein Sechserpack Bierdosen, drei Flaschen Wein im Sonderangebot, Bohnenkaffee, geräucherten Lachs für meine Sandwiches, Miso und Tofu.
Zu Hause fand ich eine Nachricht von Yuki auf dem Anrufbeantworter vor. Mit völlig lethargischer Stimme teilte sie mir mit, sie werde sich gegen zwölf noch einmal melden, und ich solle doch bitte da sein. Es war jetzt elf Uhr zwanzig. Ich machte mir einen starken Kaffee und setzte mich auf den Boden, um die letzte Folge von Ed McVain über die 87. Polizeiwache zu lesen. Eigentlich hatte ich diese Lektüre schon vor zehn Jahren abbrechen wollen, aber jedes Mal wenn eine neue Folge erschien, fiel ich wieder darauf herein. Um eine eingefleischte Gewohnheit abzulegen, sind zehn Jahre doch eine allzu lange Zeit. Um fünf nach zwölf klingelte das Telefon. Es war Yuki.
»Wie geht’s?«, fragte sie.
»Sehr gut«, erwiderte ich.
»Was treibst du gerade?«
»Ich mache mir gerade Mittagessen. French Butter Rolls von Kinokuniya, belegt mit geräuchertem Lachs, knackigem, dressierten Salat, hauchdünn geschnittenen, in Eiswasser eingeweichten Zwiebelringen und Meerrettich. Wenn die Sandwiches mir gelingen, schmecken sie vielleicht so gut wie die von der Delikatessenbude in Kobe. Kann natürlich auch schief gehen. Doch Fehlschläge führen zur Vollendung.«
»So’n Blödsinn.«
»Aber köstlich«, sagte ich. »Und wenn du glaubst, ich spinne, frag deine Bienen. Oder deinen Klee. Es schmeckt wirklich grandios.«
»Was soll der Quatsch mit den Bienen und dem Klee?«
»Ach, das ist nur so eine Metapher.«
Sie seufzte. »Du solltest mal langsam erwachsen werden mit deinen vierunddreißig Jahren. Selbst auf mich wirkst du ziemlich kindisch.«
»Du meinst, ich sollte etwas gesellschaftsfähiger werden?«
Sie ignorierte meine Frage. »Ich würde gern ein bisschen herumfahren. Wie wär’s mit heute Abend?«
»Ich glaube, ich habe Zeit«, sagte ich nach kurzer Überlegung.
»Dann hol mich um fünf hier in Akasaka ab. Erinnerst du dich noch, wo ich wohne?«
»Ja. Aber sag mal, warst du etwa die ganze Zeit allein dort in dem Apartment?«
»Ja. In Hakone ist doch nichts los. Wir wohnen mitten in den Bergen. Was soll ich da allein? Hier ist es viel interessanter.«
»Und deine Mutter? Ist sie immer noch nicht zurück?«, fragte ich.
»Nicht, dass ich wüsste. Sie hat sich überhaupt nicht gemeldet. Wahrscheinlich steckt sie noch in Katmandu. Ich sag’ dir doch, auf sie ist absolut kein Verlass. Keine Ahnung, wann sie wiederkommt.«
»Und wie kommst du finanziell zurecht?«
»Kein Problem. Ich habe eine Kreditkarte, über die ich frei verfügen kann. Habe ich meiner Mama aus dem Portemonnaie stibitzt. Eine Karte weniger fällt ihr gar nicht auf. Ich muss schon für mich selber sorgen, um nicht vor die Hunde zu gehen. Die spinnt einfach. Ist doch wohl begreiflich, was ich tue, findest du nicht?«
Ich vermied eine direkte Antwort und fragte stattdessen: »Isst du denn ordentlich?«
»Na klar. Was denkst du denn? Ohne Essen würde ich ja wohl kaum überleben.«
»Ich habe eigentlich gefragt, ob du dich ordentlich ernährst?« Yuki räusperte sich. »Na ja,
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