Tanz mit mir - Roman
gewesen, warum sie zurückgekommen war, warum sie bereit gewesen war, selbst alle Schränke und Sachen durchzusehen und zugleich in ihrem eigenen Leben aufzuräumen. Sie hatte Dinge entdeckt, die sie nie im Leben für möglich gehalten hatte. Wie zum Beispiel, dass ihr Vater ein paar Jahre lang Gruppenleiter bei den Pfadfindern gewesen war. Ihre Mutter hatte ein uraltes Hochzeitskleid auf dem Dachboden aufbewahrt, das jedoch nicht von ihr stammen konnte, da es nicht das Kleid war, das sie auf dem düsteren Hochzeitsfoto trug. Es gab nicht allzu viel, was durchgesehen werden musste – in Wahrheit sogar herzzerrei ßend wenig -, doch je mehr sie sah, desto stärker wurde der Eindruck, dass sie und ihre Eltern sich über die Jahre hinweg entfremdet hatten. Ihre Eltern hatten ihr Leben nie begreifen können, doch Angelica merkte nun, dass sie ebenso wenig über das Leben ihrer Eltern gewusst hatte. Und nun war niemand mehr da, den sie hätte fragen können.
Sie wusste kaum mehr über ihre Eltern als damals mit sechzehn Jahren. Cyril Clarke war neunundvierzig Jahre alt gewesen und damit zehn Jahre älter als seine Frau Pauline, als Angelica – oder damals noch Angela, wie sie getauft wurde – 1950 zur Welt gekommen war. Pauline war mit neununddrei ßig Jahren für damalige Verhältnisse schon recht alt gewesen für die Geburt des ersten Kindes.
»Du bist das Baby, das wir uns all die Jahre gewünscht haben – unser kleiner Engel«, hatte ihre Mutter immer wieder erklärt, wobei ihr die Tränen in die Augen getreten waren vor Glück. » Angel bedeutet Engel, deswegen haben wir dich Angela genannt!« Dann hatte sie Angela an ihre Brust gedrückt, die genauso weich und ausladend war wie Pauline selbst, und versucht, sie dazu zu überreden, ihren Nachschlag aufzuessen, damit sie »nicht so magere Storchenbeine« bekam.
Cyril verhielt sich immer recht distanziert zu seiner Tochter. Vielleicht, so hatte der Teenager Angela traurig vermutet, als Ausgleich zu Paulines Anbetung. Seine Erziehung beruhte auf Disziplin und strikten Prinzipien, weshalb sie allein ihre strenge, harte Arbeitsmoral ihm zu verdanken hatte, mehr jedoch nicht. Angelica war froh, dass sie weder seinen borstigen Schnauzbart noch die Angewohnheit, immer zu kurze Hosen zu tragen, von ihm geerbt hatte. Wenn er ihr allerdings seine Sparsamkeit vererbt hätte, wäre vermutlich vieles leichter gewesen in der Zeit, als sie in jungen Jahren von der Hand in den Mund gelebt hatte.
Selbst vierzig Jahre später noch betrat Angelica mucksmäuschenstill die mit Prägetapeten ausgekleidete Eingangshalle, als könnte sie Cyril bei seiner obsessiven Passion, dem Bau eines Detektorempfängers, stören.
Früher hatte sie ohne Verbitterung oder Groll erklärt, sie fühle sich keinem Elternteil besonders nahe. Erst während der letzten Lebensjahre ihrer Mutter hatten sie ein gutes Verhältnis zueinander aufgebaut, doch zuvor, als sie sich nach London aufgemacht hatte, war es für sie alle drei so gewesen, als habe sie eine Reise zum Mond angetreten. Oder zumindest war dies der Eindruck gewesen, den sie gehabt hatte, bis sie auf die Alben ihrer Mutter gestoßen war.
Als die Ärzte vor fünf Jahren eingeräumt hatten, dass sie nicht mehr viel für Pauline tun könnten, hatte Angelica darauf bestanden, dass Pauline in ihr vornehmes, gemütliches Haus in Islington zog. Dieser Wunsch war so egoistisch wie selbstaufopferungsvoll gewesen, da damit festgestanden hatte, dass eine Rückkehr in die Sydney Street nicht mehr möglich war. Doch Angelica hatte den Gedanken nicht ertragen können, dass ihre Mutter in einem Pflegeheim lieblos dahinsiechte. Letzten Endes hatten ihr die Ärzte ohnehin nicht mehr viel Zeit gegeben. Pauline hatte drei Taschen mitgebracht; doch als diese schließlich in ihrem Zimmer standen, hatte sie sich
nicht einmal die Mühe gemacht, sie auszupacken. Es würde reichen, hatte sie erklärt, dass sie einfach da seien.
Aus Monaten waren Jahre geworden, für die Angelica dankbar gewesen war. Erst sehr viel später hatte sie das Album ganz unten im Kleiderschrank entdeckt, als sie nach der Beerdigung die Sachen ihrer Mutter zusammengepackt hatte. Es stammte aus dem Jahr, in dem Angelica professionelle Tänzerin geworden war. Darin befanden sich seitenweise Fotografien, die sorgfältig aus dem Dancing Times -Magazin und aus Zeitungen ausgeschnitten worden waren; Pauline hatte akribisch jeden Bericht über alle Wettbewerbe und Vorführungen gesammelt, an denen
Weitere Kostenlose Bücher