Tanz mit mir - Roman
sie mit Tony teilgenommen hatte. Den Ehrenplatz schien ein Interview einzunehmen, das sie über den Beginn ihrer professionellen Karriere gegeben hatte, mit dem dazugehörigen Foto auf der gegenüberliegenden Seite. Darauf waren sie und Tony abgebildet, festgehalten in einem Moment der Dramatik, mitten in der Drehung, ihre Finger weit gespreizt vor dem dunklen Hintergrund, das Licht spiegelte sich in ihren verzückten, von der Sonnenbank gebräunten Gesichtern.
Hier und da waren zwischen den Zeitungsausschnitten ein paar Postkarten eingeklebt gewesen, die sie ihren Eltern gelegentlich geschickt hatte, sowie vereinzelte kurze Briefe, die sie auf Hotelbriefpapier gekritzelt hatte. Ihre Mutter hatte sie alle aufbewahrt, sie sorgfältig mit Fotoecken eingeklebt und mit einem weißen Buntstift auf den schwarzen Albumseiten das Datum vermerkt.
Die Vorstellung, wie Pauline jeden Schnipsel auf die dicken Seiten geklebt hatte, hatte ihr fast den Hals zugeschnürt. Ebenso die Vorstellung, dass Pauline von den Journalisten die ganzen Details über Angelicas schillerndes, perlenbesetztes Kleid bis hin zu ihren fließenden Schritten erfahren hatte, die sie von ihrer Tochter selbst nicht bekam. Nachdem Angelica den Dachboden betreten und dort noch Dutzende der gleichen,
großen, altmodischen Alben vorgefunden hatte, die mit ihren ersten Auftritten in Mrs. Trellys Tanzaufführungen begannen und mit ihrem endgültigen Ausscheiden endeten, war sie von Liebe und Schuldgefühlen übermannt worden. Sie musste sich hinsetzen, so sehr hatte sie weinen müssen.
Warum hatte ihre Mutter ihr bloß niemals etwas von diesen Alben erzählt? Sie war nur selten als Zuschauerin zu Wettbewerben gekommen, obwohl Angelica ihr immer wieder Tickets und Hotelübernachtungen angeboten hatte. Sie hatte niemals um Programmhefte oder Fotos gebeten. Und dennoch hatte sie Aufzeichnungen von Auftritten, an die sich Angelica selbst kaum noch erinnern konnte. Warum hatte sie ihr Leben wie ein Fan dokumentiert, anstatt einfach zu kommen und da zu sein?
Das war typisch für Mum, dachte Angelica. Sie hat sich niemals vorgedrängt, für den Fall, dass Dad irgendetwas sagen würde. Denn obwohl er und Mum selbst ab und zu tanzen gegangen waren, hatte er kein gutes Haar daran gelassen, als sie eine professionelle Tänzerin wurde – es schien ihn regelrecht zu ärgern, dass sie mit seinem Hobby tatsächlich Geld verdiente. Angelica konnte sich das Gespräch sehr gut vorstellen, obwohl sie genau wusste, dass es eher ein kurzer Monolog ihres Vaters gewesen wäre, unterstrichen von gelegentlichem Kopfnicken.
Angelica nahm an, dass Mum lieber aus dem Hintergrund zugesehen hatte, als das Risiko einzugehen, ihn zu ver ärgern.
Vor zehn Jahren noch hätte Angelica für die Schwäche ihrer Mutter nur ein verächtliches Schnauben übriggehabt. Doch heute fiel ihr Urteil nicht mehr so hart aus.
Nun lagen alle Alben auf dem Wohnzimmertisch und warteten darauf, dass sie sie der Reihe nach anschaute. Diese Aufgabe hatte sie seit ihrer Rückkehr vor ein paar Monaten vor sich hergeschoben. In den ersten Wochen hatte sie nur wenig
getan, außer zu schlafen, nachzudenken, Kartons voller langweiliger Papiere durchzusehen und Tanzmusik zu hören, bis sie einschlief. Es kam ihr vor, als hätte sie sich in eine Art Schneckenhaus zurückgezogen. Nun, da sie ausnahmsweise einmal wirklich allein war, schien sie durch das Erwachen der Erinnerungen in eine Lethargie verfallen zu sein, und sie war zu schwach, um irgendetwas anderes zu tun, als sich zu erinnern.
Angelicas Blick wanderte zu den Alben, und sie war immer noch hin- und hergerissen. Ein Teil von ihr war neugierig darauf, was sie im Laufe der Zeit alles vergessen hatte, und wollte ihre schlanke, stolze Figur in den glanzvollen Kleidern bewundern. Ein anderer Teil von ihr wollte unter keinen Umständen an die damalige Zeit erinnert werden. Der Gedanke an die Anspannung und das Düstere des Turniertanzes war beklemmend, und sie war sich bewusst, dass die Erinnerungen an das damalige Herzrasen erwachen würden, sobald sie schlafen ginge. Auf den Bildern war ihr nicht anzusehen, dass sie an einem Wettbewerb teilnahm. Angelica schien auf jedem Foto die Liebe ihres Lebens mit den Augen zu verschlingen.
Ich sollte sie mir alle ansehen, dachte Angelica, während sie ihren Mantel auszog und ihn auf einen gepolsterten Bügel hängte. Das ist das Wenigste, was ich für Mum tun kann.
Angelica mixte sich einen starken Gin Tonic und begann
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