Tanz mit mir - Roman
egoistische Frau, aber dies hätte mir das Herz gebrochen.
Es ist sehr schwer, jemanden so sehr zu lieben, wie ich dich geliebt habe, und zu wissen, dass du mir praktisch jeden Augenblick genommen werden könntest. Mein einziger Trost war, dass deine wirkliche Mutter – es fällt mir schwer, dies zu schreiben, Angela! – nach dir noch zwei Kinder zur Welt gebracht hat und so das gleiche Glück erfahren konnte wie dein Vater und ich.
Tränen liefen über Angelicas Gesicht, und die Zeilen verschwammen vor ihren Augen. Sie ließ den Brief sinken, vergrub das Gesicht in den Händen, um das Bild ihrer Mutter aus dem Kopf zu bekommen. Sie war nicht wütend, sie hatte im Gegenteil tiefes Mitleid mit ihrer Mutter, die all die Jahre diese Last mit sich herumgeschleppt hatte. Wie oft mochte sie diesen Brief begonnen haben, bevor sie das Blatt zerknüllt hatte, weil sie befürchtete, dass die zerbrechlichen Bande zerstört werden könnten, die statt auf Blut auf Liebe gründeten und ihre Tochter an sie banden? Wie oft musste sie ihre Tochter angesehen und sich gefragt haben, ob nun der richtige Moment gekommen sei, um etwas zu sagen? Oder vielleicht jetzt? Oder doch eher später?
Einen geeigneten Moment hätte es wohl niemals gegeben. Schlimmer noch war jedoch die Tatsache, dass es für Angelica nie mehr die Möglichkeit geben würde, die Hände ihrer Mutter
zu nehmen und ihr zu sagen, dass es für sie absolut keinen Unterschied machte. Pauline war die einzige Mutter, die sie kannte – wie hätte sie sie jemals weniger lieben können?
Die ruhigen Monate, in denen sie sich um ihre Mutter gekümmert hatte, während der Tod langsam nahte, hatten ihnen ein gegenseitiges Verständnis beschert, das sie ansonsten niemals in dieser Form hätten aufbauen können. Die Fürsorge für einen Menschen, der alle Kraft, Fröhlichkeit und Güte brauchte, hatte Angelica eine Geduld gelehrt, die sie nie zuvor benötigt hatte und von der sie gar nicht gewusst hatte, dass sie sie aufbringen konnte. Ironischerweise hatte ihr die Pflege ihrer Mutter gezeigt, was es bedeutete, eine Mutter zu sein, dachte Angelica. Damals hatte sie gedacht, dass sie damit die vielen Jahre wiedergutmachen würde, die sie nicht in Longhampton gewesen war; in Wahrheit aber tat sie genau das, was Pauline für sie als ungewolltes Baby getan hatte. Die vielen Jahre, in denen sie vergeblich versucht hatte, es ihrem unbeugsamen Vater recht zu machen, lösten sich mit dem einfachen Bestreben in Luft auf, es ihrer Mutter so angenehm wie möglich zu machen.
Angelica hatte gespürt, dass sie gebraucht wurde. Das hatte sie am meisten berührt.
»Ich halte dich doch nur auf«, hatte ihre Mutter gemurmelt, als Angelica zu Hause blieb, um ihr Gesellschaft zu leisten und alte MGM-Musicals im Fernsehen anzuschauen, wenn sich draußen im Kanal die Sonne funkelnd spiegelte. »Du solltest lieber draußen sein und andere Dinge tun.«
»Ich bin lieber hier drinnen bei dir«, hatte Angelica geantwortet, und irgendwann hatte sie es auch wirklich so gemeint.
Angelica nahm den Brief wieder zur Hand, doch sie war sich nicht sicher, ob sie ihn überhaupt weiterlesen wollte. Würde es denn einen Unterschied machen, wenn sie – jetzt – wusste, aus welcher Familie sie stammte? Sie hatte wenig
Lust zu ergründen, wer sie wirklich war. Ihr ganzes Leben lang war sie stets unabhängig gewesen. Sie war sich nicht sicher, ob sie zulassen wollte, dass eine fremde Person Ansprüche an sie stellen könnte.
Die Rückkehr nach Longhampton hatte bedeutet, alle Versionen ihres Ichs abzulegen, bis nur noch Angela Clarke übrig geblieben war. Jetzt kam es ihr so vor, als sei sie nicht einmal Angela. Gleichzeitig hatte sie jedoch von sich ein klareres Bild vor Augen als je zuvor.
Ich bin adoptiert, dachte sie mit einem Mal. Ich war also nicht einfach nur egoistisch, als ich mich selbst in Mum und Dad nicht habe wiedererkennen können. Vielleicht haben sie ja in mir jemanden gesehen, den sie kannten, was mir nur nie aufgefallen ist.
Wen haben sie in mir gesehen?
Die Neugier hatte sie gepackt, und so las Angelica den Brief zu Ende, las die Entschuldigungen und Erklärungen und schließlich die nackten Tatsachen darüber, vor welchem Leben Pauline sie gerettet hatte. Als sie die Seite umdrehte und die Geschichte ihrer leiblichen Mutter las, ließen ihre Tränen die zaghafte Schrift ihrer Mutter vor ihren Augen verschwimmen und tropften auf das vergilbte Papier.
13
Als Katie und Ross zum dritten Mal
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