Tanz mit mir - Roman
erlebt.
Vielleicht war es so, dachte sie, weil sie in ihrem Herzen keine Verbitterung verspürte. Als sie von der anderen Frau erfahren hatte – sie war ebenfalls eine Tänzerin, nicht viel jünger, aus ihrem Bridge Club -, hatte sie es so stillschweigend hingenommen, dass sich der Anwalt, den sie sich auf Jerrys Drängen hin genommen hatte, sehr verwundert gezeigt hatte. Eine Partnerschaft war nichts für die Ewigkeit, das wusste sie schon seit ihrer langjährigen Tanzkarriere.
Jerry war ein guter Ehemann gewesen, und sie hatten zusammen eine schöne Zeit gehabt, doch Angelica war zu eigenständig, um nur die Zweitbeste zu sein. Dies hatte sie schon oft genug bei Tony erlebt, sie verspürte keine Lust, das noch einmal durchzumachen.
Da sie keine Lust gehabt hatte, um den Preis ihrer Freiheit zu feilschen, hatte sie seinem großzügigen Scheidungsangebot sofort zugestimmt und war sogar noch mit ihm in Kontakt geblieben, nachdem das Baby zur Welt gekommen war. Angelica hatte nichts gesagt, doch insgeheim nahm sie an, dass Jerry für das letzte Auf bäumen seiner Jugend einen hohen Preis gezahlt hatte: Statt gemütlich Mojitos auf der Veranda zu schlürfen und dazu Dean Martins Stimme zu lauschen, erlebte er nun schlaflose Nächte und beseitigte milchiges Erbrochenes. Aber nun ja, er hatte sich für dieses Leben entschieden.
Pauline war sorgsam darauf bedacht gewesen, niemals das Baby zu erwähnen, um Angelica nicht zu verletzen. Dabei war es gar nicht mal so sehr das Baby gewesen, auf das sie neidisch war. Vielmehr hatte sie ihnen das Zusammengehörigkeitsgefühl geneidet, das die drei miteinander verbinden würde. Auf dem Foto, das Jerry ihr von sich, Melissa und Baby Jerissa geschickt hatte, schmiegten sie sich eng aneinander – drei Teile einer Einheit. Offen gestanden erschien Angelica dieses Familienglück irgendwie unecht, aber sie waren nun mal unbestreitbar eine Familie. Erst als ihre Mutter im Sterben lag, bemerkte Angelica, wie sehr sie sich nach solch einer Familie gesehnt hatte.
Man tut immer genau das als Unsinn ab, was man sich am sehnlichsten wünscht, dachte Angelica traurig, als sie Jerry und sich unter der geschwungenen und mit Gardenien geschmückten Laube betrachtete. Während ihrer Zeit mit Tony war es um ein Vielfaches leichter gewesen, das Familienleben als sentimentalen Unfug abzutun, als das Gespräch zu riskieren, das ihre ohnehin stets heikle Balance zwischen Business
und Vergnügen für immer zerstören würde. Sie war sich niemals sicher gewesen, was Tony wichtiger war – Angelica, die Tanzpartnerin, oder Angelica, die Geliebte -, doch der Gedanke, dies herauszufinden, hatte sie so erschreckt, dass sie es lieber vorgezogen hatte zu schweigen.
Sie stellte das Hochzeitsbild auf den Kaminsims und wollte das Fotoalbum schon wieder zuklappen und in die Kiste zurücklegen, als sie spontan noch einmal die verbliebenen Seiten durchblätterte, falls sich dazwischen noch etwas verbergen sollte.
Ganz hinten, zwischen dem Buchrücken und der letzten Seite, steckte ein Umschlag.
Der Brief war an sie gerichtet und trug Paulines Handschrift: Für Angela – erst nach meinem Tode zu öffnen , stand darauf, mit Tinte geschrieben, in souveränen, geschwungenen Buchstaben. Der Brief musste also geschrieben worden sein, lange bevor ihre Mutter unter einer schlimmen Arthritis zu leiden hatte, wegen der ihre Handschrift später nur noch wie ein kindlicher Versuch anmutete, die vormals saubere, schöne Schrift zu imitieren. So selbstbewusst wie ihre Handschrift war Pauline selbst nie gewesen; sie hatte es bis zu seinem Todestag stets Cyril überlassen, sich eine Meinung zu bilden und eine Entscheidung zu treffen.
Während sie den Umschlag öffnete, dachte Angelica, dass dies einer der schöneren Aspekte gewesen war, ihre Mutter zu sich nach Islington zu holen. Dort hatte sie sich von Cyrils gebieterischen Ansichten über so ziemlich alles von Immigranten bis hin zu Weißbrot freimachen können. Angespornt durch Angelica, der jede Billigung durch andere vollkommen egal war, hatte Pauline nach und nach eine große Abneigung nicht nur gegen Radfahrer entwickelt, die auf dem Gehweg fuhren, sondern auch gegen Milchpakete und Leute, die im Auto die Musik so aufdrehten, dass sie diese noch bis ins Wohnzimmer hören konnte.
Die gemeinsame Entrüstung über die Rücksichtslosigkeit mancher Menschen war einer der schmalen Pfade gewesen, die sie gegen Ende einander nähergebracht hatten. Es begann immer damit,
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