Tanz, Pueppchen, Tanz
ihre Haut unter dem Mantel feucht wird.
Ein altes Bild taucht auf, und die unerwartete Erinnerung schlägt Wurzeln und wuchert wie Unkraut, bevor Amanda sie ausreißen kann. Sie sieht sich als Kind auf der Suche nach einem Paar schicker Schuhe den Kleiderschrank ihrer Mutter durchwühlen, etwas mit hohen Absätzen und schmaler Spitze, am liebsten in Gold oder Silber, geeignet, um sich als Märchenprinzessin zu verkleiden, doch auf dem Boden des Schranks reihten sich nur vernünftig flache Paare. Aber als sie aufblickte, entdeckte sie auf dem Regal über der Stange mit den Kleidern ihrer Mutter einen Schuhkarton und dachte, dass ihre Mutter darin ihre besonderen Schuhe aufbewahren musste, wie sie eine Märchenprinzessin tragen würde. Sie rannte in die Küche, holte die kleine Trittleiter, baute sie vor dem Kleiderschrank auf, stieg auf die dritte, oberste Stufe und streckte die Arme nach dem Karton aus. Ihre Finger streiften über die Pappe, fanden jedoch keinen Halt, doch es gelang ihr, den Karton so weit zu verschieben, dass er im Fall ihren Kopf knapp verfehlte und auf dem Teppich landete, wobei sich der Deckel öffnete und sein Inhalt sich zu ihren Füßen ergoss.
Eine Pistole, erinnert Amanda sich jetzt mit stockendem Atem, so wie ihr damals der Atem gestockt haben musste. Klein und schwarz und erstaunlich schwer.
Sie sieht, wie das Kind Amanda das seltsame Objekt in die Hand nimmt, wendet und unter ihre Nase hält, um seinen kalten metallischen Duft einzuatmen. Und plötzlich steht ihre Mutter in der Tür, weint, schreit, schwenkt die Arme wie eine geisteskranke Puppe und reißt die Pistole aus Amandas Hand. Das Kind flieht voller Angst aus dem Zimmer. Und als Amanda später in das Zimmer ihrer Mutter zurückkommt, um alles zu erklären, starrt ihre Mutter durch sie hindurch, als würde sie gar nicht existieren.
Als sich Amanda das nächste Mal ins Zimmer ihrer Mutter schlich und einen Blick in den Kleiderschrank riskierte, war der Schuhkarton nicht mehr da. Auch sein Inhalt wurde nie wieder erwähnt. Die Frage blieb all die Jahre ungestellt: Was machte ihre Mutter mit einer Pistole?
Und nun der Nachtrag: War es dieselbe Waffe, mit der sie John Mallins erschossen hat?
»Wer zum Teufel ist John Mallins?«, fragt Amanda laut.
»Verzeihung. Sprechen Sie mit mir?« Der Mann neben ihr sieht sie mit warmen braunen Augen an.
»Was? Oh nein. Tut mir Leid. Ich habe bloß Selbstgespräche geführt. Ich wollte Sie nicht stören.«
»Kein Problem. Das geht mir ständig so.« Sein Blick wandert wieder zu seinem Buch zurück.
Amanda ertappt sich dabei, sein Profil zu mustern. Ein nettes Gesicht, entscheidet sie. Nicht besonders attraktiv, aber auch nicht unattraktiv. Lange Nase, hohe Wangenknochen, volle Lippen, kräftiges Kinn. Sanfte Augen, denkt sie und wünscht sich, dass sie sie noch einmal ansehen. »Gutes Buch?«
»Was?«
»Sie scheinen ja ganz gefesselt davon.«
»Es ist okay.«
»Bloß okay?« Warum belatschert sie den armen Mann? Er ist offensichtlich nicht an einer längeren Unterhaltung interessiert. Er hat nicht das Bedürfnis, abgelenkt und unterhalten zu werden. Seine Mutter hat nicht in der Lobby des Four Seasons Hotels einen Fremden erschossen.
»Bis jetzt ist es ziemlich gut.« Er legt das aufgeschlagene Buch auf seinen Schoß. »Aber ich wappne mich gegen eine Enttäuschung.«
»Wieso das?«
»Ich lese eine Menge Krimis, und die meisten fangen gut an und fransen dann irgendwie auseinander.«
Amanda nickt zustimmend, obwohl sie in ihrem Leben nicht viele Krimis gelesen hat. Das Leben ist schon verwirrend genug, denkt sie. »Und wie wappnet man sich gegen eine Enttäuschung?«
Der Mann lächelt und überlegt eine Weile. »Man denkt über die Vergangenheit nach«, sagt er schließlich.
Sofort bricht Schweiß auf Amandas Oberlippe aus. Sie spürt, wie ihre Wangen rosa anlaufen und feucht werden, als hätte sie sich über ein offenes Feuer gebeugt.
»Alles in Ordnung?«, fragt der Mann und kneift besorgt seine braunen Augen zusammen.
»Es ist der Mantel«, lügt sie. »Ich bin fast so weit, dass ich schreien könnte.«
»Kommen Sie«, bietet er an. »Ich helfe Ihnen.« Er zupft den Mantel von ihren Schultern und hält ihn, während sie ihre Arme aus den bauschigen Ärmeln zieht, wobei ihre rechte Hand nur knapp das Kinn des Mädchens neben ihr verfehlt.
»Tut mir Leid«, sagt Amanda.
Ein lautes Kaugummiknallen verrät Amanda, dass ihre Entschuldigung angenommen worden ist.
»Soll ich
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