Tanz, Pueppchen, Tanz
die in den dunklen Holzboden des schmalen Korridors übergehen, den grauen Teppich im Wohnzimmer zu ihrer Linken, das holzgetäfelte Arbeitszimmer zu ihrer Rechten, eine Treppe am Ende des Flures neben der Küche; ein schluchzendes Kind, das diese Treppe hinunter und von einem Zimmer ins andere rennt, um dem Zorn seiner Mutter zu entgehen.
Amanda schluckt und ignoriert die Stimme ihrer Mutter, die sie daran erinnert, sich auf dem ausgefransten Stück grauen Teppich vor der Haustür die Schuhe abzutreten.
»Lass uns das schnell hinter uns bringen, okay?«
»Ich übernehme das Erdgeschoss«, erklärt Ben ihr.
»Meinst du, du schaffst die Schlafzimmer oben?«
Amanda geht vorsichtig vor, als könnte im Schatten des oberen Treppenabsatzes eine irre Gestalt mit einem Messer lauern, die sich kreischend auf sie stürzt, wie in Psycho. Sie hört, dass Ben begonnen hat, die Küchenschränke durchzugehen. Wonach suche ich eigentlich, fragt sie sich und betrachtet die feuchten Abdrücke, die ihre Stiefel auf den Treppenstufen hinterlassen haben. Was machen wir hier?
Ihr altes Zimmer liegt auf der linken Seite des Treppenabsatzes. Etliche Sekunden bleibt sie in der Tür stehen, während ihr Blick von dem kleinen Einzelbett vor der blass rosafarbenen Wand zu dem Renoir-Druck eines auf einer Schaukel stehenden Mädchens wandert, der über dem Schreibtisch an der Wand gegenüber hängt, um dann weiterzuschweifen zu der Kommode aus hellem Holz, die gerade unter das Fenster mit Blick auf die Doppeleinfahrt passt. Ein perfektes Mädchenzimmer, denkt sie. Nur dass sie weit davon entfernt war, ein perfektes Mädchen zu sein.
Amanda betritt das Zimmer und wirbelt herum, wobei sie sich mit jeder Umdrehung ein wenig kleiner fühlt, genau wie Alice nach Einnahme der mysteriösen Pille, bis sie zuletzt ein tapsiges Kleinkind ist. Sie hört ein Lachen, spürt kräftige Frauenarme, die sie hochheben, bis sie mit fröhlich strampelnden Beinen in der Luft schwebt. »Wer ist mein kleines Püppchen?«, hört sie eine Frau trillern.
Und dann verstummt das Lachen abrupt, erstarrt in der Luft und prasselt wie Hagelkörner auf ihren Kopf. Das Kleinkind fällt aus den Armen der Frau und bleibt wie eine zerbrochene Puppe auf dem grauen Teppich liegen, Arme und Beine in unmöglichem Winkel abgespreizt. Verwundet sinkt Amanda aufs Bett.
Als Teenager hat sie ihre Eltern angefleht, ihr zu erlauben, das Zimmer zu verändern. Ihre Freundinnen hatten alle viel coolere Zimmer mit französischen Betten und Tapeten, die ihren heranreifenden, wenngleich dubiosen Geschmack widerspiegelten. Sie hätte die Nase voll von all dem Pink, protestierte sie, von all dem Kleinmädchen-Schnickschnack. Sie war ihrer Sammlung von Tierseifen und gläsernen Briefbeschwerern längst entwachsen. Sie wollte schwarze Wände wie Debbie Profumo. Sie wollte eine Hightech-Stereoanlage wie Andrea Argeris.
Stattdessen hörte sie die Ermahnung, leiser zu reden, weil ihre Mutter ruhte.
Aus Protest hatte sie aufgehört, ihre Kleider in den Schrank zu hängen oder ordentlich gefaltet in Schubladen zu verstauen. Sie tapezierte das Zimmer mit Marilyn-Manson- und Sean-Penn-Postern, hörte Heavy Metal und drehte ihr Radio die ganze Nacht voll auf, bis ihr Vater ins Zimmer stürmte, es vom Regal riss, zu Boden schleuderte und damit irreparabel zertrümmerte. »Was ist los mit dir?«, wollte er wissen, während sein Blick zu der Packung mit Anti-Baby-Pillen wanderte, die sie absichtlich auf dem Schreibtisch hatte liegen lassen. »Du weißt, dass deine Mutter bei dem verdammten Lärm nicht schlafen kann.«
Als Reaktion hatte sie sich ein neues Radio gekauft, das sie noch lauter aufdrehte. Als Reaktion war sie immer länger ausgeblieben, bis sie kaum noch nach Hause kam, und wenn doch, immer mit einem lauten Knallen der Haustür. Als Reaktion hatte sie mit jedem männlichen Wesen geschlafen, das ihr ins Auge fiel, weil sie die Aufmerksamkeit des einen Mannes nicht erringen konnte, der am wichtigsten war. Denn seine Aufmerksamkeit war bereits in Beschlag genommen.
Von ihrer Mutter.
Zumindest würde Oprah Winfrey das vermutlich sagen, denkt Amanda, gelangweilt von der ganzen Amateur-Psychologie. Sie steht auf und beginnt ungeduldig die Schubladen der Kommode aufzureißen, auf der Suche nach weiß der Himmel was.
Was sie findet: ein paar Pullover ihrer Mutter, alten Modeschmuck, einen Seidenschal mit schwarzer Borte und einem Muster aus bunten Schmetterlingen. Amanda knüllt die kostbare
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