Tanz, Pueppchen, Tanz
Seide in ihrer Hand zusammen, hält sich den Schal unter die Nase und schnuppert vergeblich nach einem Hauch ihrer Mutter. Abwesend wickelt sie den Schal um ihren Hals und wendet sich dem Schreibtisch zu. Rastlos kramt sie durch Kartons mit leerem Briefpapier und Kalender ohne Eintragungen. In der untersten Schublade entdeckt sie eine Sammlung alter Modezeitschriften, die sie träge durchblättert.
»Hier ist nichts«, sagt sie laut, verstaut die Zeitschriften wieder in der Schublade und geht zurück in den Flur.
»Geh nicht«, ruft eine dünne Stimme in ihrem Rücken, und Amanda dreht sich um, obwohl sie weiß, dass niemand da ist.
Das zweite Schlafzimmer ist nur ein paar Schritte entfernt. Auch dieser Raum ist weitgehend so, wie sie ihn in Erinnerung hat, die Einrichtung praktisch unverändert, nur dass jetzt ein Doppelbett an der gegenüberliegenden Wand steht und die Wände in einem subtileren Rosa gestrichen sind. Vor dem Fenster mit Blick auf die Straße steht ein Schreibtisch. Neben einem Kleiderschrank steht eine niedrige Kommode an der Wand. Über dem Bett hängt ein weiterer Renoir-Druck – ein Feld mit Blumen. Amanda kann sich nicht erinnern, dass irgendjemand diesen Raum je bewohnt hat. Ihre Eltern hatten nie Gäste. Einer spontanen Eingebung folgend marschiert sie zu dem Kleiderschrank und reißt die Türen auf, bevor sie zurückweicht und die Augen abschirmt, wie von plötzlicher Helligkeit geblendet.
Die Puppenbühne steht auf dem Boden des ansonsten leeren Schranks, zwei Holzmarionetten liegen ordentlich zusammengelegt in der Mitte der Bühne, den Oberkörper wie zur Gymnastik über die Beine gestreckt, die Hände über den Füßen gefaltet, die Augen wie im Schlaf geschlossen, die Fäden um sie herum ausgebreitet, als wären sie in ein Spinnennetz gestolpert.
Behutsam trägt Amanda die gut einen halben Meter hohe Bühne in die Mitte des Zimmers, stellt sie auf den grauen Teppich und hockt sich im Schneidersitz daneben. Mit zitternden Fingern nimmt sie die erste Puppe hoch. Es ist ein Junge mit einem großen Holzkopf und einer hohen Tolle schwarz gemalter Haare. Sofort klappt die Marionette die Augen auf, große neongrüne Kugeln. Er hat volle Lippen und ein breites Lächeln. Er trägt ein frisches weißes Baumwollhemd, und unter einer steifen Jeans ragen blaue Schuhe hervor.
Amanda lässt die Puppe an den Fäden baumeln und betrachtet ihren ungelenken Tanz. Sie nimmt die zweite Puppe, ein rotwangiges Mädchen mit riesigen blauen Augen und aufgemaltem welligen blonden Haar, in die andere Hand und wendet sie, sodass sie ihren Freund ansieht. Langsam bewegt sie ihre Finger, lässt das Mädchen einen Knicks und den Jungen einen Diener machen. Und im nächsten Moment wirbeln sie anmutig über die kleine Bühne.
»Wie kommst du da oben zurecht?«, ruft Ben von unten.
Die Marionetten lösen sich mit einem Ruck voneinander und recken die Hände himmelwärts, als ob jemand eine Waffe auf ihren Kopf richten würde. »Alles okay«, ruft Amanda und lässt die Fäden los, sodass die Puppen übereinander zu Boden sinken, als ob sie tatsächlich erschossen worden wären.
»Hast du irgendwas gefunden?«, fragt Ben an der Treppe.
»Nein. Und du?«
»Bis jetzt noch nichts. Ich gehe jetzt in den Keller.«
»Ich sollte hier bald fertig sein«, ruft sie ihm nach und starrt schuldbewusst auf die Puppen. Sorgfältig entwirrt sie die beiden Figuren und platziert sie wieder ordentlich gefaltet und mit geschlossenen Augen in der Mitte der Bühne.
»So ist es besser«, erklärt sie ihnen flüsternd, stellt die Bühne wieder in den Schrank und schließt die Türen.
Sie spürt eine Bewegung hinter sich, dreht sich um und blickt in das von Wut verzerrte Gesicht ihrer Mutter. »Was machst du hier?«, schreit ihre Mutter, packt sie an den Schultern und schüttelt sie durch, als ob sie selbst nur eine Puppe sei.
»Ich hab nur gespielt«, stammelt das Kind Amanda und windet sich aus dem Griff seiner Mutter. »Es tut mir Leid.«
»Raus hier. Auf der Stelle raus hier.«
Amanda rennt aus dem Zimmer und bleibt im Flur stehen. In ihren Augen schimmert Feuchtigkeit, die ihr Mascara verklebt. »Nein«, sagt sie und wischt sich entschlossen die Tränen ab. »Du bringst mich nicht mehr zum Weinen, Mutter.«
Ich glaube nicht, dass ich dir je gesagt habe, wie schön du bist.
»Du kannst mich mal.«
»Hast du etwas gesagt?«, ruft Ben von unten.
Der hellgraue Himmel verdunkelt sich langsam schieferfarben, als Amanda das
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