Tanz, Pueppchen, Tanz
vor einiger Zeit.«
Amanda legt die Ellenbogen auf den Tisch und stützt ihren Kopf in die Hände. Was hatte das alles zu bedeuten? War John Mallins ein verzweifelter oder nur ein eitler Mann gewesen? Hatte er versucht, sein Aussehen zu bewahren, oder wollte er seine Erscheinung komplett verändern? »Er hat versucht, dem Alter in seinem Pass zu entsprechen«, denkt sie laut. Einem Pass, den er dem echten John Mallins gestohlen hat, nachdem er ihn ermordet hat und in seine Identität geschlüpft ist. Gütiger Gott, wer war dieser Mann?
»Da ist noch etwas«, sagt Jennifer.
»Was denn noch?«, fragen Ben und Amanda beinahe gleichzeitig.
Jennifer wirkt ein wenig überrumpelt. »Du hast nach seinem Geburtsdatum gefragt.«
»Ja«, kommt die gemeinsame Antwort.
»Du hattest Recht. Laut seinem Pass ist es der 14. Juli.«
»Scheiße«, sagt Amanda und lässt die Hände in den Schoß fallen.
»Scheiße«, wiederholt Ben wie ein Echo und lehnt sich zurück.
»Woher wusstest du das überhaupt?«
Weder Ben noch Amanda sagen ein Wort.
»Was ist hier los?«
Wieder erntet sie nur Schweigen.
»Nun, ich würde wirklich gern noch weiter plauschen …«, sagt Jennifer, und ihr Blick huscht zwischen den beiden hin und her. Nach einer längeren Pause schiebt sie ihren Stuhl zurück und steht auf.
Sofort ist auch Ben auf den Beinen. »Danke«, sagt er schlicht.
»Wofür genau?«
»Ich weiß nicht.«
Jennifer streicht mit einer Zärtlichkeit über seine Wange, die Amanda innerlich zusammenzucken lässt. Dann streckt sie die Hand in Amandas Richtung aus. »Nett, Sie kennen zu lernen, Amanda. Ich hoffe, dass sich alles regelt.«
»Ich auch.«
Amanda beobachtet, wie Jennifer sich auf die Zehenspitzen stellt und mit den Lippen über Bens Mund streift.
»Rufst du mich nachher an?«
»Auf jeden Fall.«
Sie geht zu dem Tisch bei der Tür und lässt nur den Duft von Limonen zurück.
21
»Gleich hier. Hier ist super«, sagt Amanda, als das Taxi an der Ecke Bloor Street und Palmerston Avenue hält. Sie gibt dem Fahrer einen neuen violetten Zehn-Dollar-Schein und sagt ihm, er könne die fast vier Dollar Wechselgeld behalten. Was soll’s, denkt sie, als sie aus dem Taxi steigt und durch die zehn Zentimeter dicke Neuschneedecke stapft. Es sieht sowieso aus wie Spielgeld. Blaue Fünf-Dollar-Scheine, violette Zehner, grüne Zwanziger, rosafarbene Fünfziger und braune Hunderter. Ganz zu schweigen von den Ein- und Zwei-Dollar-Münzen, die »Loonies« und »Toonies« genannt werden. Passt doch prima zu ihrem Leben, denkt sie, das ist auch ein buntes verrücktes Spiel.
Sie hängt sich ihre Handtasche über eine und die Reisetasche über die andere Schulter und marschiert die breite, von mächtigen Eichen gesäumte und von wunderbar altmodischen Gaslaternen erleuchtete Straße hinunter. Die Äste der Bäume sind mit Schnee bedeckt wie mit einem zähflüssigen Sirup, sodass sie die Zweige hängen lassen wie Trauerweiden. Sie stellt sich die Bäume im Frühling vor, voller Knospen, die es kaum erwarten können, sich zu öffnen, und entspannt die Lippen zu einem Lächeln.
Frühling war immer ihre liebste Jahreszeit: der langsame Übergang von bitterkalten zu gemäßigteren Temperaturen, wenn der Winter widerwillig seine eisige Herrschaft über das Land aufgab; der erste verlockende Kitzel von warmer Luft, die Ende März einströmte, oft genug, um von einem Schneesturm Anfang April wieder verscheucht zu werden; der Schnee, der endgültig im Regen schmolz, der auf leuchtend gelbe Butterblumen und hellrote Tulpen fiel, die ihre dünnen, aber erstaunlich stämmigen Stängel aus dem feuchten Boden trieben und ihre Zeit in der Sonne forderten.
Dieser Wechsel der Jahreszeiten ist wahrscheinlich das Einzige, was Amanda in Florida vermisst, wo sich eine Jahreszeit von der anderen nur durch die Gefahr von Wirbelstürmen unterscheidet. Die Palmen sind immer grün, und die Sonne scheint mit geradezu monotoner Regelmäßigkeit. Im Juli kann die Luftfeuchtigkeit ein wenig ansteigen, im Januar kann es ein bisschen kühler werden, aber alles in allem ist Florida das Land des immer währenden Sommers.
Deshalb bin ich schließlich dorthin gezogen, erinnert Amanda sich, tritt mit dem Absatz ihres Stiefels lustvoll in eine gefrorene Pfütze und beobachtet, wie die dünne Eisschicht splittert und birst wie Glas. Was soll das? Wen interessiert der Wechsel der Jahreszeiten? Ja, vielleicht hat sie den belebenden Schub kühler Luft, der die drückende
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