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Tanz unter Sternen

Tanz unter Sternen

Titel: Tanz unter Sternen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Mueller
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Rändern standen unverständliche Ziffern.
    »An welchem Wochentag wollen Sie fahren?«
    »So bald wie möglich. Geht heute ein Zug?«
    Die Frau sah auf die Bahnhofsuhr. »Wenn Sie sich beeilen, erwischen sie ihn noch. Der Schnellzug nach Köln fährt in zwölf Minuten ab.«
    Nele bezahlte hastig und durchquerte die Halle. Im Laufen versuchte sie, sich zu orientieren. Auf der Westseite ging es in Richtung Wannsee, auf der Ostseite hielten die Vorortzüge aus Lichterfelde und Zossen. Wo gingen die Fernzüge ab?
    Dem Schaffner an der Pforte zum Bahnsteig lag der Ruß der Dampfloks auf den Wangen. Er lochte Neles Fahrkarte mit einer Markierzange und prägte das Datum darauf: 02. 04. 1912. »Achten Sie darauf, dass Sie die Fahrkarte immer bei sich tragen«, leierte er in nasalem Singsang herunter. »In Köln geben Sie die Karte bitte wieder ab, wenn Sie den Bahnsteig verlassen.«
    »Mache ich.« Sie trat durch die Pforte. Die Luft war von Kohlenstaub erfüllt. Dampfloks fauchten wie stählerne Raubtiere. Hier war ihr Stall, hier füllten sie ihre Bäuche und brachen in ferne Städte auf. Vom benachbarten Gleis fuhr gerade ein Zug ab, die Lokomotive schnaufte in Stößen Rauch aus ihrem Schornstein, mühsam zog sie die Waggons aus der Halle.
    Das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, blieb als feiner Schmerz in ihrer Brust. Gleichzeitig aber fühlte sich Nele frei wie noch nie. Sie stand am Beginn eines Abenteuers, und dieses Abenteuer würde ihr Leben verändern.
    Samuel kam aus dem Bad, noch im Begriff, sich den Hosenstall zuzuknöpfen. Er kauerte sich nieder, zog die Schuhe an und band die Senkel. »Papa, wo geht das hin, was wir in der Toilette runterspülen?«
    »In unterirdische Kanäle«, sagte Matheus. Er zog sich den Mantel an. »Die transportieren unsere Abfälle raus aus der Stadt. Das ist sehr wichtig.«
    Cäcilie reichte Samuel seine Jacke. »Hast du die Pausenbrote?«
    »Hab ich. Darf ich Anton ein Brot abgeben? Der ist arm.«
    »Woher weißt du das?«, fragte sie.
    »Das hab ich schon am ersten Schultag gemerkt. Er hat die ganze Zeit seine Schultüte festgehalten und nichts daraus genascht. Als die Schule aus war und wir sind die Treppen runtergerannt, da ist er gestolpert und die Tüte ist ihm runtergefallen. Es flogen lauter Kartoffeln raus, nur obenauf hatten ein paar Äpfel und Nüsse gelegen.«
    Matheus sagte: »Gib Anton ein Brot. Cäcilie, vielleicht kannst du ihm immer eines mehr machen.«
    »Heute üben wir wieder das i«, sagte Samuel. »Auf, ab, auf – Pünktchen obendrauf.«
    Cäcilie küsste Samuel auf die Wange. »Geh besser los, sonst kommst du zu spät zur Schule.«
    »Du musst mich nicht hinbringen, Papa«, sagte Samuel. »Es reicht, wenn du bis zur Ecke mitgehst.«
    Matheus lachte. »Wie du willst.« Sie verließen die Wohnung. Cäcilie konnte sie noch im Treppenhaus reden hören.
    Sie ging ins Schlafzimmer, in dem es sehr kühl war, denn es konnte nicht geheizt werden, nur am Abend war es erträglich, wenn sie zum Vorwärmen heiße, in Handtücher gewickelte Ziegelsteine unter die Bettdecken gelegt hatte.
    Cäcilie sah sich im Spiegel an und fragte sich, warum sie nichts mehr für Matheus empfand. Was sie früher an ihm bewundert hatte, fiel ihr jetzt auf die Nerven. Seine Arbeitsversessenheit, seine steife, artige Höflichkeit, die notorische Hilfsbereitschaft.
    Sie fuhr sich durch die nussbraunen Haare. Als kleines Mädchen hatte sie unerschütterlich behauptet, ihr Haar sei blond, und nach einer Weile hatten auch alle anderen so getan, als hätte sie blondes Haar.
    Wie sie Matheus’ schäbige Hüte hasste! Die Ängstlichkeit, mit der er seinen Körper überwachte, weil er fürchtete, eine tödliche Krankheit könnte ihn befallen. Die Pantoffeln. Wann hatte das begonnen, dass sie immer gereizt war in seiner Nähe?
    Donnerstagmorgens arbeitete Matheus immer im Waisenheim, er würde einige Stunden fort sein. Cäcilie öffnete den Kleiderschrank. Zwischen den Wäschestapeln lagen Säckchen mit getrocknetem Lavendelkraut, und die Wäsche war sorgfältig mit roten Bändern verschnürt, Handtücher, Kissenbezüge, Hemden, Nachtjacken, Taschentücher.
    Sie grub hinten links unter den Winterschlüpfern und holte ein Bündel Briefe heraus. Nachdem sie sich aufs Bett gesetzt hatte, blätterte sie die einzelnen Briefe durch. Da waren Umschläge mit Wappen, Briefbögen mit gestochen feiner Schrift, andere, deren Buchstaben sich wie Krähenfüße spreizten. Jeden dieser Briefschreiber hätte sie haben

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