Tanz unter Sternen
Jahre alt, Sohn des Bankiers Gottlieb Adelbert Delbrück, seit 1886 Teilhaber des vom Vater mitbegründeten Bankhauses. 1910 hatte er es mit der Privatbank Gebrüder Schickler zum Bankhaus Delbrück, Schickler & Co. fusioniert.
Delbrück war ein gewiefter Fuchs. Er hatte es mit seinen Schachzügen zum kaiserlichen Schatullenverwalter gebracht, und nicht nur Hofbankier war er, sondern auch Mitglied im Aktionärsausschuss der Bank des Berliner Kassenvereins. Der Berliner Kassenverein spielte eine Schlüsselrolle bei den Vorbereitungen des Krieges. Er war zur zentralen Wertpapiersammelbank geworden. Passenderweise gehörte Delbrück außerdem zur Staatsschuldenkommission und saß in zahlreichen Aufsichtsräten von Unternehmen, die mit der Waffenproduktion beschäftigt waren. Bei Krupp zum Beispiel, dem führenden deutschen Waffenproduzenten. Die Krupp-Werke stellten Geschütze her, auch Kriegsschiffwerften gehörte zum Konzern.
Dieser Mann bereitete den großen Krieg vor, zumindest was die finanzielle Seite betraf. Was hatten sie erwartet? Dass es leicht sein würde, ihn anzubohren? Die »Verlobung« mit Cäcilie, seiner Tochter, war da erheblich vielversprechender. Sie besaß eine schwache Stelle, das hatte er gleich begriffen, als er begonnen hatte, sie in Berlin heimlich zu observieren: Durch die Ehe weit unter ihrem Stand hatte sie eine Menge von Annehmlichkeiten eingebüßt. Ob bewusst oder unbewusst, sie vermisste den Luxus. Er hatte nur nach einem Weg suchen müssen, sie von zu Hause wegzulocken und an die alten Genüsse zu erinnern, an die Hochachtung, die ihr früher entgegengebracht worden war, an das gute Essen, die Bediensteten, die prachtvollen Räume. Auf der Titanic kam alles zusammen: Cäcilie war fort von daheim, was es ihr leichter machen würde, ihr Land zu verraten, und sie war umgeben von Luxus.
Die Worte des Pastors hallten in seinem Kopf wider: Einem Mann die Frau auszuspannen, das ist feige.
Oh, das wusste er, niemand wusste das so gut wie er. Wie sich Matheus Singvogel jetzt fühlte, so hatte auch er, Lyman, sich gefühlt, als Vanessa ihm sagte, dass sie von seinem Bruder schwanger sei und ihn heiraten werde.
Am Ende macht es dich stärker, Matheus, dachte er. So wie es mich stark gemacht hat. Man musste zäh sein im Leben und unerbittlich. Mit der Ausdauer eines Wolfs hatte er sich im Secret Service nach oben gekämpft, der Geheimdienst war noch jung, die Chancen waren groß und mussten nur ergriffen werden. In der Abteilung Äußeres war er bereits einer der wertvollsten Agenten, man hatte ihm und zwei Kollegen die Spionage in Deutschland unterstellt, mit Dutzenden Untergebenen. Der Erfolg bei Cäcilie stand kurz bevor. Noch hier auf dem Schiff musste es geschehen.
Lyman zückte seine Brieftasche. Mit spitzen Fingern pickte er das Foto heraus. Vanessa. »Ich tue das für dich«, sagte er. Sie anzusehen, wühlte ihn immer noch auf. An manchen Tagen beflügelte es ihn, an anderen war ihm danach, sich die Pulsadern aufzuschneiden.
Sie gehörten zusammen. Lucas hätte sich da nicht einmischen dürfen, niemals, er hatte mit seiner Tat einen heiligen Tempel entweiht, und nun unterdrückte er Vanessa mit Gewalt und Drohungen.
Da Vanessa und Lucas gebürtige Engländer waren, würden sie und ihre Kinder von den Deutschen im Krieg interniert werden, er musste nur in Erfahrung bringen, wo. Die gefälschten Dokumente, die Lucas als Spion belasteten, waren bereits vorbereitet. Seine Hinrichtung würde nicht auf ihn, Lyman, zurückfallen, er musste danach nur ein paar Wochen warten, bis er Vanessa und die Kinder rausholte. Sie würde keinen Verdacht schöpfen.
Er sah wieder auf das Foto. Traurigkeit kroch ihn an, sie sank wie eine Lähmung in seine Glieder. Vanessa hatte sich bestimmt nicht verändert. Sie war die kindliche Frau geblieben, die herzensgute, die über einen Wasserläufer im Bach staunen konnte und Kuchen für die Nachbarn buk. Aber war er noch der, den sie damals geliebt hatte? Konnte er das überhaupt noch, Gedichte schreiben, zärtlich sein?
Der neue Mensch, Lyman Tundale, hatte von ihm völlig Besitz ergriffen. Er dachte schon von sich selbst als Lyman. Er horchte in sich hinein: Lebte sein altes Ich überhaupt noch, war es nicht erstickt unter den Steinen, die er zum Schutz daraufgeschichtet hatte?
Henry Holloway, das war sein Name gewesen. Wenn er an diesen Namen dachte, fühlte er Verzweiflung. Es war nur ein hauchdünner Riss im Herzen, aber er wusste, wenn er ihn
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