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Tanz unter Sternen

Tanz unter Sternen

Titel: Tanz unter Sternen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Mueller
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beim einfachen Volk ist das Frühstücksgeschirr mit Schlachtszenen bedruckt. Bilder von Geschützen verzieren die Kuchenteller. Sogar Universitätslehrer promenieren in Uniform als Offizier der Reserve. Ihre Kinder singen zu Weihnachten vom Militär!« Er sang mit einer verzerrten Spottstimme in deutscher Sprache: »Morgen kommt der Weihnachtsmann, / Kommt mit seinen Gaben: / Trommel, Pfeife und Gewehr, / Fahn’ und Säbel und noch mehr, / Ja ein ganzes Kriegesheer, / Möcht’ ich gerne haben.«
    Der Arzt hatte lange darauf gewartet, sich wieder an der erregten Konversation beteiligen zu können. Jetzt sah er seine Gelegenheit gekommen. »Es muss ja nicht zum Krieg kommen«, sagte er. »Mir würde es schon genügen, wenn sich in Zukunft nur die Gesunden fortpflanzen, damit wir gutes Erbmaterial bekommen. Die anderen sollten aus Vernunft auf Kinder verzichten.«
    »Kein Mensch verzichtet aus Vernunft, wie Sie es nennen, auf eine Familie«, erwiderte Matheus so kühl er nur konnte. »Es ist das Anrecht eines jeden, eine Familie zu haben. Gerade die Schwerkranken brauchen den Familienzusammenhalt.«
    »Da darf man kein falsches Mitgefühl haben.« Der Arzt schüttelte den Kopf. »Wir stören die natürliche Zuchtwahl durch unsere Irrenpflege, durch die übertriebene Sozialfürsorge und die künstliche Verminderung der Kindersterblichkeit. Und ehe Sie mich jetzt als Unmenschen hinstellen, mein Lieber, ich sage nicht, wir sollten sie alle umbringen. Aber wenn man den Irren und Schwachen die Fortpflanzung verwehren würde, indem man sie zwangskastriert, dann würde es auch kein degeneriertes Lumpenproletariat mehr geben, das sich kaninchenmäßig vermehrt und unsere Gesellschaft schwächt.«
    »Wie bitte?« Matheus blieben die Worte im Halse stecken. »Sie reden über Menschen, über Mütter und Kinder … Ich fasse nicht, dass Sie das gesagt haben.«
    »Lassen Sie mal die Kirche im Dorf. Ich rede nicht von Mord, wie manche Darwinianer, sondern von Kastration. Was geben wir an öffentlichen Geldern aus, um die Kranken zu pflegen! Wir bezahlen Millionen, damit unsere Rasse genetisch verarmen kann!«
    »Aber genau das beweist unsere Menschlichkeit.«
    »Es gibt auch Tiere, die den Schwächeren im Rudel helfen. Das meine ich nicht. Mir geht es um die Fortpflanzung. Das wollen Sie offenbar nicht verstehen.«
    »Er versteht Sie sehr gut«, sagte der Journalist. »Die Deutschen sind Verstellungskünstler. Sie geben sich nach außen hin friedlich, reden von Theatern und Universitäten und kulturellen Errungenschaften. In Wahrheit jedoch ist Berlin voll von Exerzierplätzen, und an jeder Ecke, in jedem Park stehen Siegesstatuen, Männer in Stiefeln mit geballten Fäusten und kühlem Schlachtfeldblick. Die Deutschen zelebrieren ihre Generäle. Es geht ihnen nicht um Menschlichkeit. Es geht ihnen um Macht.«
    Er musste plötzlich an den Hausmeister in Berlin denken, der unter ihnen im ersten Stock wohnte. Er sagte oft Sätze, die mit »es geht um« anfingen. »Es geht um Ehre, Ruhe und Sicherheit.« Oder: »Es geht um Gerechtigkeit. Ein heiliges Feuer brennt in unseren Herzen, wir werden Deutschland verteidigen.«
    Matheus musterte den Engländer. Woher wusste er so gut Bescheid über Deutschland? Er sagte die Wahrheit: In Berlin sah man immer öfter Truppen marschieren, man kam nicht weiter, musste eine Viertelstunde warten, bis das Bataillon oder die Schwadron vorüber waren. Da waren die Grenadiere des Ersten Garderegiments, die voller Stolz die spitzen Mützen trugen. Es gab Husaren in grüner, blauer oder roter Uniform, die Kavallerie betrachtete sich als die Krönung der Armee.
    Totenkopfhusaren, wie sie im Volksmund genannt wurden, ritten auf Rappen einher und trugen schwarze Uniformen, mit silbernem Totenkopf an der Pelzmütze. Der Hausmeister sagte: »Die geben kein Pardon und nehmen kein Pardon, das sind ganze Männer!«, und jammerte, dass die Totenkopfhusaren nach und nach eine graue Felduniform bekommen sollten, das sei sehr schade, die alte Tradition werde mit Füßen getreten, man könne das Zweite Leib-Husaren-Regiment »Königin Viktoria von Preußen« doch nicht aussehen lassen wie einen Haufen Straßenkehrer.
    Der Hausmeister, der seinerseits tatsächlich eine Art Straßenkehrer war, schlug mit hartem Knall die Hacken zusammen wie ein Offizier und grüßte mit mathematischer Präzision. Die Begeisterung fürs Militär teilte er mit Tausenden von Berlinern. Sie standen Spalier oder zogen im Gleichschritt mit,

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