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Tanz unter Sternen

Tanz unter Sternen

Titel: Tanz unter Sternen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Mueller
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anderen im Boot, und rief nach Frauen und Kindern.
    »Warten wir«, raunte Lyman. »Wenn er keine Frauen mehr findet, lässt er uns beide einsteigen.«
    Das Boot schaukelte an seinen quietschenden Davits. Offenbar hatte niemand den Mut, der Aufforderung des Offiziers zu folgen. Eine Dame, die ein schwarzes Samtkostüm trug, sagte: »Soll das ein Scherz sein? In der Kabine ist es warm und trocken, und wir haben Licht. Warum sollte ich in ein Boot steigen, das da hinunter ins Dunkel gelassen wird, in dieser Kälte?«
    »Eine Vorsichtsmaßnahme, Madam. Vom Kapitän angeordnet.«
    »Der Kapitän übertreibt maßlos!«
    Ihr Mann sagte: »Wir treffen uns zum Frühstück wieder, Liebes.«
    Mit widerwillig verzogenem Mund gab sie dem Offizier ihre Hand und ließ sich hinüberhelfen in das Boot. »Wenn ich mir eine Erkältung zuziehe, wird das Folgen für Sie haben«, drohte sie.
    Nach ihr wagten sich weitere hinein, darunter eine Dame, die ihren Pelzmantel über einem Nachthemd und Hausschuhen trug. Töchter verabschiedeten sich von ihrem Vater. Er gab anschließend seiner Frau einen langen Kuss, ehe er sie einsteigen ließ und zurücktrat. Ein Kind stieg ein. Es umklammerte seine Puppe, als wäre sie ein Familienmitglied, das es zu retten galt.
    Die Abschiede zu sehen und die Kinder schreckte Cäcilie auf. Wie konnte sie ihren Sohn zurücklassen? »Ich gehe nicht ohne Samuel«, sagte sie. »Niemals.«
    »Noch Frauen?«, rief der Offizier im langen Mantel. Als er keine Antwort erhielt, trat er vom Boot herunter und befahl: »Abfieren!«
    »Aber das …« Lyman fluchte. »Verdammt. Der Mann ist wahnsinnig. Das Boot ist nicht einmal halb voll! Warum lässt er keine Männer einsteigen?« Er packte Cäcilies Arm. »Schnell, zur anderen Seite. Da sind sie großzügiger.«
    Auf der Steuerbordseite rief Bruce Ismay, der Direktor der White Star Line: »Sind noch Frauen da, bevor das Boot geht?«
    Eine trat vor, schüchtern.
    Er sagte: »Springen Sie rein.«
    »Ich bin nur eine Stewardess«, sagte sie.
    »Das ist gleich – Sie sind eine Frau, nehmen Sie Platz.«
    Im Boot saßen auch einige Männer. Lyman kniff die Augen zusammen. »Wie haben die das geschafft?«
    Der Offizier gab den Befehl zum Abfieren, und die Seeleute ließen das Boot hinunter. Als es schon über einen Meter abgesunken war, traten zwei Herren in Anzügen an die Schiffskante, sahen sich kurz an und sprangen. Cäcilie hörte, wie sie mit Krachen im Boot landeten. Die Insassen empörten sich, nur eine Frau rief erleichtert: »Henry!«
    Cäcilie wendete sich zum Offizier um. Ließ er den Männern das durchgehen? Aber dieser Offizier sah gar nicht hin, er sagte leise zu einem anderen Offizier: »Gehen Sie mit an Bord, Pitman. Bleiben Sie in der Nähe der Titanic mit dem Boot und sammeln Sie Schwimmer auf.«
    Pitman nickte. Er kletterte behände am Seil des rechten Davits hinab ins Boot.
    Schwimmer aufnehmen? Cäcilie stutzte. Rechneten sie etwa damit, dass Leute aus Verzweiflung ins Wasser springen würden? »Ich muss Samuel suchen gehen, ich kann doch nicht meinen Sohn zurücklassen.«
    Lyman hielt sie fest. Er reagierte überhaupt nicht auf das, was sie gesagt hatte, sondern sah hektisch um sich.
    Kassenbeamte unter Führung des Kommissars setzten kleine, schwere Säcke an Deck. Der Offizier, der das Einladen der Boote überwachte, schüttelte den Kopf. »Sind Sie übergeschnappt? Denken Sie, ich lade Gold und Silbergeld aus Ihrem verfluchten Tresor in die Boote, wenn ich Menschen retten kann?«
    Cäcilies Entschluss geriet ins Wanken. Was, wenn Samuel tatsächlich schon in einem der Boote war? Jemand hatte ihn unter seine Fittiche genommen, das erklärte, warum er nirgendwo auftauchte. Was nützte es ihm, wenn sie starb?
    »Ich möchte nach unten sehen«, sagte sie, und Lyman ließ sie los. Vorsichtig trat sie an einen der Davits heran, hielt sich daran fest und beugte sich über den Rand des Schiffs. Im schwarzen Meer spiegelten sich die Lichter der Kabinen. Sie bildeten keine gerade Linie über dem Wasser wie sonst, sondern verliefen schräg dazu. Am Bug erreichte das Meer bereits den Schriftzug TITANIC.
    »In Ordnung«, sagte sie. »Ich werde mit dir in ein Rettungsboot steigen. Aber ich muss erst zum vierten Schornstein und nachschauen, ob Samuel dort ist.«
    Das Wasser schwappte ihm um den Hals. Auf Zehenspitzen lief Samuel kleine Schritte. »Hilfe!«, keuchte er. Er konnte kaum noch atmen, die Kälte presste ihm die Luft aus den Lungen. In kurzen, flachen

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