Tanz unter Sternen
Atemstößen rang er um sein Leben. »Hi-Hilfe!« Er verlor den Boden unter den Füßen. Die Arme waren vom Eiswasser gelähmt, nur mühevoll bekam er einige Schwimmzüge hin. Das Wasser kroch ihm ins Gesicht und netzte seine Haare.
Adam prüfte noch einmal den Sitz der Beutestücke unter seiner Schwimmweste. Sie verbarg auf ideale Weise die ausgebeulten Taschen. Er öffnete die Tür und spähte aus der fremden Kabine in den Flur hinaus. Zufrieden stellte er fest, dass ihn niemand von den aufgeregten Passagieren beachtete. Er verließ die Kabine, schloss die Zwischentür auf und wechselte hinüber in den kahlen weißen Gang der Scotland Road, von der ersten Klasse in die dritte, vom Schlaraffenland in die Arbeiterstraße.
Vorn an der Treppe drängte sich eine Menschenmenge, Großfamilien mit Kindern, Männer in geflickten Hosen, Frauen, die schreiende Säuglinge zu beruhigen versuchten. Viele beteten Rosen kränze. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte er und schob sich durch die hinteren Reihen.
»Helfen Sie uns!« Eine Frau hielt ihn am Arm fest. »Wie kommen wir zu den Rettungsbooten?«
»Fragen Sie einen Steward«, sagte er und wand sich frei.
Sie sah ihn bittend an. »Wir kennen uns auf dem Schiff nicht aus.«
Adam seufzte. Den kurzen Weg, den er dank des gestohlenen Schlüssels nehmen konnte, würde er ihnen auf keinen Fall zeigen – nach dem Unglück würde es viele Befragungen geben. Wenn sie dann erzählten, er habe den Schlüssel für die Türen zwischen Scotland Road und Park Lane gehabt, flogen seine Diebstähle auf. Der lange Weg war allerdings reichlich kompliziert. »Also gut«, sagte er. »Sie gehen die Treppen hinauf bis zu den Aufenthaltsräumen im Schutzdeck. Dann nach draußen über das Welldeck, an der Bibliothek der zweiten Klasse vorbei. Sie gehen wieder nach drinnen, in den Bereich der ersten Klasse, den langen Gang hinunter zum Ärztezimmer. Hinter dem Privatsalon der Zofen und Diener nehmen Sie die Treppe rauf zum Bootsdeck.«
Verwirrt sah die Frau ihn an. Auch die anderen, die zugehört hatten, konnten ihm offenbar nicht folgen. »Über das Welldeck?«, fragte sie zögerlich.
»Das kennen Sie doch. Das mit den zwei Kränen.«
»Bitte, könnten Sie uns führen?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Bedaure.« Während er sich weiter durch die Menge drängelte, rief er: »Es kommt sicher gleich ein Steward und kümmert sich um Sie.« Er stieg die Treppe hinauf. Für diese Leute war er nicht zuständig. Die Stewards an Bord mussten sich darum kümmern, dass alle den Weg durch das Schiff nach draußen fanden.
Durch den Zusammenstoß mit dem Eisberg hatte er seine gesamte bisherige Beute verloren – als er vorhin versucht hatte, nach unten zu gelangen, war bereits alles geflutet gewesen, die Kesselräume standen unter Wasser und im Postraum schwammen Tausende Briefe. Aber die Evakuierung kam ihm gelegen. Im Chaos achtete niemand auf ihn, er konnte sich mühelos neue Beute holen. Inzwischen hatte er bereits mehr zusammen als vor dem Unfall.
Ein letztes Prunkstück wollte er sich noch beschaffen, die Krönung, die seinen Schatz abrundete. Danach würde er sich ausbooten lassen. Ein wenig pochte sein Gewissen, während er die Stufen hinaufstieg. Er stahl Schmuck, und die orientierungslosen Leute da unten verpassten womöglich ihr Rettungsboot. Was, wenn sie starben? Er war dann schuld an ihrem Tod.
Andererseits, jeder kämpfte um sein eigenes Überleben, und im Kampf ums Dasein gewann der Stärkere. Hatte das nicht ein gewisser Darwin belegt? Es war ganz natürlich, dass er, Adam, an seinen Vorteil dachte und die anderen stehen ließ.
Du redest dich raus, schalt er sich, du bist einfach nur ein Egoist, abgrundtief schlecht.
Und die Politiker, die zum Krieg anheizten, wie viele Menschenleben hatten die auf dem Gewissen? Sie verwendeten genauso Darwin als Ausrede, sie sagten, durch den Krieg stelle sich heraus, wer der Stärkere sei, und der überlebe dann und veredele die menschlichen Gene. Dabei überlebten im Krieg eher die Schwachen und Kranken, alle anderen wurden an der Front verheizt. Das sind die wirklichen Schurken, dachte er, die solche Lügen unters Volk bringen.
Schon fühlte er sich besser.
25
B ewegten sich die Beine noch? Samuel fühlte sie nicht, er gab ihnen den Befehl zu Schwimmbewegungen, ohne zu wissen, ob sie ihn ausführten. Der Körper zuckte, er hielt sich mit dem Zucken über Wasser. Auch die Hände spürte er nicht mehr.
»Lieber Gott«, flüsterte
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