Tanz unter Sternen
Samuel, »hilf mir.« Sein Atem ging in flachen Stößen. Die Zähne klapperten. Lange würde er es nicht mehr aushalten. Er dachte an Weihnachten, an die Kerzen, an die Wärme in der Wohnung. Er dachte daran, wie er am Weihnachtsmorgen die Blechlokomotive ausgepackt hatte und dass er zum Frühstück Plätzchen hatte essen dürfen.
Waren das die Sprossen einer Leiter in den Dampfschwaden vor ihm? Er fasste mit der Hand danach, aber die tauben Finger konnten die Sprossen nicht ertasten. Erst als er mit dem Arm danach schlug, spürte er die harten Streben.
Er zwang die rechte Hand an die Strebe. Mit dem Unterarm der Linken bog er die kalten Finger um. Auch sein Fuß fand unten Halt. Er kletterte eine Stufe empor, nahm alle Kraft zusammen und erklomm eine weitere. Die leblosen Puppenfinger lagen schwach an den Sprossen, aber wenn er nicht rückwärtskippte, genügte es, dass die Füße ihn trugen. Er stemmte sich eine weitere Strebe hinauf. Schon reichte ihm das Wasser nur noch bis zum Bauch.
Das Klettern wurde schwerer, die nasse Kleidung zog ihn hinab. Als er versuchte, eine weitere Strebe hinaufzukriechen, rutschte sein Fuß weg. Die Hände, sie mussten zugreifen, zugreifen! Die tauben Finger taten nichts. Er fiel. Er klatschte ins Eiswasser, es spülte ihm über den Kopf.
Kein Zweifel mehr, das Schiff ging unter. Cäcilie sah hektisch unter den Menschen am vierten Schornstein nach Samuel, aber weder ihn noch Matheus konnte sie finden. Jeder wollte jetzt auf ein Rettungsboot. Gegenüber des Schornsteins ließen sie gerade eines zu Wasser mit so vielen Leuten drin, dass sie bis zum Rand darin stehen mussten, die Bootskräne ächzten unter dem Gewicht.
Daneben machte man ein neues Boot startklar. Cäcilie starrte darauf und wusste nicht, was sie tun sollte. Ein Gefühl der Aussichtslosigkeit lähmte sie.
Lyman führte sie zur Reling, sie ließ sich willenlos von ihm mitziehen.
Der Boden stand schräg, der ganze Schiffskoloss neigte sich. Es war nicht leicht zu gehen. Cäcilie fror. Der eisige Wind drang durch ihren Mantel. Wenn sich Samuel nur warm genug angezogen hatte! Manchmal vergaß er, seine Jacke zuzuknöpfen.
»Frauen und Kinder«, rief ein Besatzungsmitglied. Es half den Ersten hinüber ins Boot.
Lyman sagte: »Gib mir deinen Shawl.«
»Warum?«
»Gib ihn mir. Im Fall, dass sie keine Männer hineinlassen, verkleide ich mich als Frau.«
Gleichgültig löste sie den langen Shawl. Die Kälte zog ihr am Hals herab. Sie ließ sich vom Offizier ins Boot hinüberhelfen, es schaukelte an den Davits, nach unten bis zum Meer waren es sicher zwanzig Meter. Was, wenn eines der Seile riss?
Vielleicht sehe ich Matheus und Samuel nie wieder, schoss es ihr durch den Kopf. Sie rettete sich, sie ging allein von Bord, schlimmer noch, mit einem fremden Mann.
Sie fühlte sich leer. Hatte sie nicht eine treue, liebevolle Ehefrau sein wollen und eine gute Mutter? Jede andere Mutter wäre für ihr Kind gestorben. Der Ausflug in den Berliner Zoo letzten Sommer, wie sehr hatte sie ihre beiden Männer da geliebt. Matheus und Samuel hatten bei den Löwen gestanden und über die Pranken und die Mähnen gestaunt. Wie die Augen der beiden geleuchtet hatten, wie schön sie da eine Familie gewesen waren! Die Wärme, die sie beim Anblick von Matheus und Samuel empfunden hatte damals, schnürte ihr jetzt den Hals ab.
Steig wieder aus!, befahl sie sich.
Aber sie sah am Rumpf der sinkenden Titanic entlang und fühlte sich hilflos. Sie blieb im Boot.
Adam polierte den goldenen Ring an seinem Hosenbein. Der Ring hatte die Form einer Schlange und war mit drei Diamanten geschmückt, ein hübsches letztes Stück. Nun war es höchste Zeit, die Titanic zu verlassen – was nützte die Beute, wenn er es nicht mehr auf eines der Rettungsboote schaffte? Er steckte den Ring ein und rannte den Gang entlang. Obwohl der Boden des Flures eben war, kam es ihm beim Laufen vor, als erklimme er einen Berg. Adam passierte den Briefkasten und die Bibliothek der zweiten Klasse.
Ein Mann trat ihm in den Weg. »Gott sei Dank! Sie sind Adam, nicht wahr? Wissen Sie, wo ich Samuel finden kann?«
Schmale Nase, wirre Haare, das war Samuels Vater. »Tut mir leid. Ich habe keinen blassen Schimmer.«
»Ich hab überall gesucht.« Der Mann fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Seine Augen waren nass. »Ich muss ihn finden! Das Schiff geht unter, wie soll ich weiterleben, wenn mein Sohn ertrinkt?«
»Habe ihn seit gestern nicht gesehen. Wirklich, ich kann
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