Tanz unter Sternen
schwerfallen. Bei genauem Hinsehen erkannte man die Herrenschuhe und die Hose unter dem langen Shawl. Es war Lyman. Ein Seemann half ihm in Eile herüber. Lyman stolperte zu Cäcilie hin und stellte sich mit gesenktem Kopf neben sie. Der Offizier schickte noch drei Seeleute und einen Heizer zum Rudern hinüber und befahl das Abfieren.
Die knarrenden Seile wurden Ruck für Ruck nachgelassen. Mal ragte der Bug des Bootes höher, mal das Heck. Die Crew rief den Seeleuten oben zu: »Fier vorn!« Dann wieder: »Fier achtern!« Oder: »Fier zusammen!«
Die Insassen stöhnten bei jeder Bewegung. Auch Cäcilie fürchte te sich, ins eiskalte Wasser zu fallen. »Vielleicht sind diese Boote gar nicht dafür gedacht, beladen hinabgelassen zu werden«, sagte sie.
Lyman machte eine beruhigende Handbewegung.
Da hörte sie von oben einen Schrei. »Halt«, rief jemand, »dieser Junge muss noch mit!«
Sie sah hoch. Matheus! Er trug Samuel zur Schiffskante. »Das ist mein Kind«, schrie sie, »das ist mein Junge! Halten Sie an!« Aber die Matrosen hörten nicht auf, das Boot herabzulassen.
Matheus sah am Deck entlang. Sie tat es auch, und erschrak. Es gab keine Boote mehr, ihr Boot und das benachbarte, das zugleich abgefiert wurde, waren die letzten.
Er rief: »Könnt ihr ihn auffangen?«
Lyman breitete die Arme aus. »Wir fangen ihn.«
Einen Moment zögerte Matheus. Cäcilie sah, wie er Samuel an sich drückte, ihn küsste. Er redete leise mit ihm. Schließlich warf er ihn hinab. Tatsächlich fing Lyman ihn auf. Das Boot schwankte. Die Taue knackten. Aber es hielt stand. Cäcilie nahm Lyman den Jungen aus den Armen. Er war völlig durchnässt, und seine Haut war kalt wie Eis. Er lächelte. Er sagte: »Mama, ich habe einen Freund.«
»Ich weiß«, sagte sie.
Er sah nach oben zum Deck, versuchte den Arm zu heben. »Adam … Papa hat Adam gefunden, und der hat mich gerettet.«
Sie hob den Kopf. »Matheus … Es tut mir leid.« Wie konnte er sich retten?
»Schon gut.«
»Gibt es auf der anderen Seite noch Boote?«, rief sie.
»Ich sehe nach. Pass gut auf Samuel auf.« Er verschwand.
Dass er plötzlich nicht mehr zu sehen war, riss ein Loch in ihre Brust. Ein Sehnen packte sie, wie sie es seit ihren ersten gemeinsamen Wochen nicht mehr erlebt hatte. Wie hatte sie nur Matheus freiwillig verlassen können?
Viele Frauen um sie herum starrten ebenfalls zum Deck hinauf, dahin, wo ihre Männer standen. Niemand wusste, ob rechtzeitig ein Schiff zu ihrer Rettung kommen würde, bevor die Titanic unterging.
Wie hatte sie sich für den falschen Mann entscheiden können! Lyman war feige, er hatte sie überredet, ohne Samuel in ein Boot zu steigen, und sich als Frau verkleidet, um unter Weibern seine Haut zu retten. Matheus hingegen war mutig an Bord geblieben. Er hatte Samuels Leben über sein eigenes gestellt.
Er, der seit Jahren seinen Urin beobachtete aus Angst, krank zu werden, der sich die Augen auswusch und die Hände schrubbte, der fortwährend Medikamente schluckte – er war in Wirklichkeit stark. Sie hatte seine Kraft in den letzten Jahren durch ihr Nörgeln zu Staub zermahlen. Hätte sie ihn bewundert, ihn bestärkt, wäre seine Tapferkeit schon früher zum Durchbruch ge kommen. Das stand ihr nun deutlich vor Augen. Auch als er gestern Abend eine Versöhnung versucht hatte, war das nicht Schwäche, sondern Stärke gewesen. Welche Schmerzen musste er wegen ihr gelitten haben!
Sie drückte Samuel an sich. Ich muss den Jungen wärmen, dachte sie, er zittert ja am ganzen Leib. Aber er lächelte, so glücklich hatte sie ihn selten gesehen. Sie passierten hell erleuchtete Salons, das Licht schien Samuel ins Gesicht.
Drinnen die Kabinen zu sehen, machte ihr bewusst, wie kalt und dunkel es hier draußen war. Vielleicht waren auch sie, die vermeintlich Geretteten, dem Tode geweiht.
Lyman Tundale wandte sich ihr zu. »Mach dir keine Sorgen.«
»Wage es nicht«, fauchte sie, »auch nur ein Wort an mich zu richten. Du redest groß daher von fortschrittlichen Zivilisationen, und dann sitzt du hier in einem Boot mit Frauen und verkriechst dich! Matheus hat hundertmal mehr Mut als du.«
Er beugte sich über den Rand des Bootes. »Verdammt.« Er nahm den Shawl vom Kopf und gab ihn ihr. Wieder nach oben gerichtet, brüllte er: »Halten Sie an!«
Jetzt hörte auch sie ein lautes Rauschen. Sie sah hinab. Unter ihnen kam aus dem Rumpf der Titanic Wasser geschossen. Da war ein Loch im Schiff, geformt wie das Ende eines Rohres. »Was ist
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