Taran Bd 1 - Das Buch der Drei
»Was ist das?«, rief er.
»Das Licht meiner Kugel«, kicherte Eilonwy. »Was denn sonst?«
Zum ersten Mal hatte Taran Gelegenheit, Eilonwy zu betrachten, von der er bisher nur die blauen Augen kannte. Sie hatte langes, rötlich-goldenes Haar, das ihr bis auf die Hüften reichte. Ihr Gesicht mit den hohen Wangenknochen war lehmverschmiert. Lehmverschmiert war auch ihr kurzes weißes Gewand, das von Silberspangen zusammengehalten wurde. Um den Hals trug sie eine feine Kette mit einem silbernen Amulett, das die Sichel des zunehmenden Mondes darstellte. Sie mochte ein oder zwei Jahre jünger sein als Taran, war aber ebenso groß wie er. Nachdem sie die leuchtende Kugel auf den Boden gelegt hatte, trat sie rasch auf den Jungen zu und löste ihm die Fesseln. »Eigentlich wollte ich ja schon früher kommen«, meinte sie. »Aber Achren hat mich leider erwischt, als ich mit dir sprach. Sie gab es mir mit der Peitsche, ich biss sie. Zur Strafe hat sie mich dann in eine der unterirdischen Felsenkammern eingesperrt, von denen es Hunderte unter Spiral Castle gibt, dazu alle möglichen Gänge, Schächte und Stollen. Nicht Achren hat sie angelegt. Dereinst, so erzählt man sich, habe das Schloss einem großen König gehört, dessen Name in Vergessenheit geraten ist. Achren glaubt alle Gänge zu kennen; aber sie kennt nicht die Hälfte davon! Kannst du dir vorstellen, dass sie auf allen vieren durch halb verschüttete Stollen kriecht? Sie ist älter, als man vermuten würde, verstehst du.« Eilonwy kicherte. »Ich aber kenne jeden Gang unter Spiral Castle! Diesmal habe ich bloß etwas länger gebraucht, in der Dunkelheit, weil mir die Kugel gefehlt hat.«
»Ist Achren deine Mutter?«, fragte Taran misstrauisch.
»Aber nein!«, rief das Mädchen. »Ich, Eilonwy, bin die Tochter von Anghard, der Tochter von Regat, die wiederum eine Tochter von – oh, es ist langweilig, die ganze Reihe herunterzubeten. Meine Ahnen gehören dem Volk des Meeres an, Seekönig Llyr ist der Stammvater unseres Hauses. Achren sei, so heißt es, bloß meine Tante; doch manchmal bezweifle ich sogar das.«
»Und was tust du in Spiral Castle?«
»Nach dem Tod meiner Eltern haben mich meine Verwandten hierher geschickt, zu Achren, damit sie mich in der Zauberkunst unterweist. In meiner Familie ist das so üblich, verstehst du: Die Jungen werden Heerführer und die Mädchen Zauberinnen.«
»Achren ist mit König Arawn verbündet!«, rief Taran. »Sie ist eine verdammte Hexe!«
»Und ob sie das ist!«, versicherte Eilonwy. »Glaub mir, ich wünschte mir, meine Verwandten hätten mich anderswohin geschickt! Aber ich fürchte, sie haben mich längst vergessen.«
Mit einem Mal bemerkte sie die blutige Schramme an Tarans Arm. »Woher hast du die?«, fragte sie. »Wie man sich nur so aufschlitzen lassen kann! Nun, ich vermute, als Hilfsschweinehirt hat man wenig Gelegenheit, sich im Kampf zu üben.«
Eilonwy riss einen Streifen vom Saum ihres Kleides ab und verband Taran die Wunde damit.
»Ich hab mich nicht aufschlitzen lassen«, knurrte der Junge. »Es ist das Verdienst Arawns oder deiner Tante, ich weiß das nicht so genau. Schlimm und heimtückisch sind sie alle beide.«
»Ich hasse Achren!«, schimpfte Eilonwy los. »Sie ist eine widerliche, boshafte alte Schachtel! Von allen Leuten in Spiral Castle bist du der einzige Mensch, mit dem man sich nett unterhalten kann – und ausgerechnet dich hat sie eingelocht!«
»Meinen Freund will sie sogar umbringen lassen«, sagte Taran.
»Dann ist auch dein Kopf in Gefahr!«, rief Eilonwy. »Bei Achren gibt es keine halben Sachen. Es tät mir leid um dich …«
Taran unterbrach sie und meinte: »Mir ist ein Gedanke gekommen, Eilonwy! Kann man durch deine unterirdischen Gänge und Stollen auch zu den anderen Zellen gelangen? Gibt es womöglich sogar einen Weg, der hinaus ins Freie führt?«
»Natürlich«, sagte das Mädchen. »Wenn es einen Weg herein gibt, muss es auch einen hinaus geben – oder?«
»Willst du uns helfen, aus Spiral Castle zu fliehen?«, fragte Taran. »Du könntest meinem Gefährten und mir den Weg zeigen.«
»Ich soll euch zur Flucht verhelfen?«, kicherte Eilonwy. »Achren würde platzen vor Zorn! Aber hat sie es nicht verdient? Sie hat mich geschlagen und einzusperren versucht … ja, ja«, fuhr sie augenzwinkernd fort, »das ist eine feine Sache! Stell dir bloß ihr Gesicht vor, wenn sie herunterkommt und die Zellen leer sind! Das gibt einen Riesenspaß! Wenn ich mir auszumalen
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