Tarean 01 - Sohn des Fluchbringers
denn wir leben auf der Burg des Than, und sollte Bergen untergehen, sind wir wahrscheinlich die Letzten, die hier oben auf den Mauern stehen und dem Land dabei zuschauen können. Das Leben da draußen ist hart, und es wird von Jahr zu Jahr härter. Unerbittlich presst Calvas unser Volk aus. Es leidet und stirbt unter seiner Knute. Aber all dies geschieht im Flachland, hier oben im Gebirge merken wir davon nur dann etwas, wenn uns das Pfeifenkraut ausgeht.
Ich glaube, manche von uns haben sich in den letzten Jahren zu sehr mit den Zeiten abgefunden, in denen wir leben. Sie sind bescheiden geworden in ihren Ansprüchen und vorsichtig in ihrem Handeln.«
Der Ritter hielt kurz inne, um sich die Pfeife anzuzünden. Er nahm einen langen Zug und dann noch einen, und sein Blick schien dabei auf irgendeinen Punkt weit hinter dem Jungen gerichtet zu sein.
Tarean wagte es nicht, ihn anzusprechen. Irgendetwas in seinem Inneren sagte ihm, dass Wilfert, gedankenverloren wie er heute Abend war, mehr über das, was ihn bewegte, preisgeben würde, wenn er ihn nicht dazu drängte.
»Heute kam ein Bote«, fuhr Wilfert schließlich fort, »ein Alb aus Cayvallon. Und er forderte uns dazu auf, unsere Bescheidenheit und unsere Vorsicht abzulegen und einmal mehr für das zu kämpfen, wofür wir immer gekämpft haben – bis zu jenem dunklen Tag, da wir im Angesicht einer furchtbaren Niederlage all unseren Mut verloren. Er fordert von uns, aufzustehen und alles zu wagen, um das Feuer, das einst in uns brannte, in uns allen, erneut zu entfachen. Und entweder werden wir bei diesem Unterfangen gemeinsam zugrunde gehen, und Bergen und Albernia werden nach all den Jahren schließlich doch fallen – oder es gelingt uns, das Rad des Schicksals einmal mehr in Bewegung zu setzen und zu beenden, was damals auf dem Drakenskal begann. So oder so«, und damit blickte er Tarean direkt in die Augen, und dem Jungen wurde klar, dass der einstige Knappe seines Vaters seine Anwesenheit für keinen Lidschlag vergessen hatte, »so oder so wird es aufhören, Tarean.«
Am nächsten Morgen brachen Urias von Bergen, Ritter Wilfert, der albische Besucher und ein Tross aus acht Soldaten und zwei Beratern des Thans nach Cayvallon auf.
Tarean stand auf dem Wehrgang neben dem Torhaus, blickte ihnen durch die Zinnen nach, wie sie die Fuhrwerkstraße nach Ortensruh hinabritten, und er fragte sich mit leicht bangem Herzen, ob die Tage des Friedens, der hier oben zumindest dem Anschein nach geherrscht hatte, tatsächlich bald vorüber sein würden.
2
DER VOGELMENSCH
Zwei Tage später ließ Ilrod Tarean zu sich rufen.
»Hör zu, Junge, ich brauche jemanden, der einen Botengang für mich ausführt. Es gibt einige beunruhigende Neuigkeiten aus dem Kernland, und es ist äußerst wichtig, dass jemand hinauf zu den Posten auf dem Wallhorn steigt, um sie davon in Kenntnis zu setzen. Ich würde einen meiner Soldaten schicken, aber es sind nicht mehr so viele übrig, seit der Than und Ritter Wilfert nach Cayvallon geritten sind.«
Der Junge nickte und versuchte dabei, seine Aufregung zu unterdrücken. Es geschah nicht oft, dass der Waffenmeister ihn mit einem Auftrag betraute, der über das Striegeln der Pferde der Soldaten oder das Reinigen von Rüstungsteilen hinausging. Vielleicht wollte er Tarean damit zeigen, dass er nicht mehr über ihn verärgert war, oder, wichtiger noch, dass er ihn trotz seines mitunter ungestümen Wesens für einen Mann hielt, dem man Verantwortung übertragen konnte. »Ihr könnt Euch auf mich verlassen.«
»Gut, das wollte ich hören«, erwiderte der alte Krieger zufrieden, griff dann in die Schublade seines schweren, aus unverziertem Holz gezimmerten Schreibtischs und holte eine Pergamentrolle hervor, die zusammengerollt und mit dem Siegel des Thans verschlossen war. »Hier, überbringe diese Botschaft Hauptmann Fenjal. Und eile dich; es könnten viele Leben davon abhängen. Doch vor allem werde keinen Augenblick unaufmerksam. Es heißt, vereinzelte Wolflingbanden streifen seit Kurzem durch die Gemarkung und überfallen Wanderer. Also nimm dein Schwert mit und halte die Augen offen.«
»Ich verstehe, Meister Ilrod.«
Damit war er entlassen. Die Pergamentrolle in eine lederne Umhängetasche gesteckt, rannte er durch den Hauptkorridor und den Speisesaal bis in die Küche, wo er sich von Esmera, der Köchin, ein wenig Proviant für seinen Ausflug einpacken ließ. Dann stürmte er, immer zwei Treppenstufen auf einmal nehmend, hinauf in den
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