Tarean 01 - Sohn des Fluchbringers
»Er hat verächtlich über meinen Vater gesprochen.«
Fluchbringer!
»Es heißt, Calvas sei auf der Suche nach einem neuen, mächtigen Verbündeten.«
»Er hat einen mächtigen Verbündeten. Diesen dreigötterverfluchten Wolf, den uns das leichtfertige Treiben eines allzu eitlen Kriegers beschert hat!«
Fluchbringer!
»Wie gedenkt er, sollen wir auf Calvas’ neue Schurkerei antworten?«
»Die Zeit des Ausharrens und des schlichten Verteidigens dessen, was wir noch unser eigen nennen, sollte endlich vorbei sein.«
»Mit solchen Gedanken beschreiten wir einen gefährlichen Pfad.«
»Gefährlich? Es ist ungeheuerlich! Solche Ideen können nur dem Wahnwitz entsprungen sein. Wollt Ihr alle enden, wie der Mann, dessen Versagen uns den Fluch von Calvas’ Herrschaft erst eingebracht hat?«
Dessen Versagen uns den Fluch von Calvas’ Herrschaft erst eingebracht hat …
Irgendwann fielen Tarean vor Erschöpfung die Augen zu, und er glitt dort, wo er saß, auf der aufgewühlten Erde neben dem umgestürzten, zertrümmerten Grabstein seines Vaters, in einen leichten, unruhigen Schlaf. Im Traum nahmen seine ruhelosen Gedanken Gestalt an, verwandelten sich in das mürrische, abweisende Gesicht von Than Urias, in die verstohlen vorwurfsvollen Mienen der Dorfbewohner, in die hämische Fratze von Silas. Sie alle tanzten in einem wilden, wahnsinnigen Reigen um ihn herum, und als er sich umdrehte und umwandte, blickte er wieder in das stumme, traurige, bleiche Antlitz seines Vaters, des Mannes, über den die ganze Welt ihr Urteil gefällt hatte, obschon er sie nur hatte retten wollen.
Tarean.
Das Wirbeln der Gesichter um ihn herum wurde schneller, und mit einem Mal waren sie alle in rötliches Licht getaucht, das Licht brennender Dachstühle, brennender Wölfe, nein, eines brennenden Wolfs – der Grimmwolf! –, der in der Ferne über einen Hügelkamm geschritten kam und glühend und gewaltig am Himmel aufging wie ein sterbender Stern. Und neben ihm, unendlich viel kleiner und doch das eigentliche Zentrum aller Macht, stand eine schlanke, schwarze Gestalt, eine Silhouette vor dem unheilvollen Feuer des Grimmwolfs, und sie wirkte wie ein Riss in der Wirklichkeit, eine lichtlose Ballung absoluter Bosheit, die alles Leben und Sein an sich band, zu sich hin zog und zu verschlingen drohte.
Tarean!
Mit einer herrischen Geste streckte die Gestalt den rechten Arm aus, und der Grimmwolf hob den Kopf, öffnete sein Maul, und aus der Tiefe seiner Kehle drang ein dunkles Grollen. Die Wirklichkeit schien wellenförmig zu erzittern, während sich das Grollen ausbreitete, und als der heiße Atem des Dämons Tarean erfasste, verdorrten die Gesichter um ihn herum mit unglaublicher Schnelligkeit, wurden grau und schwarz und verwehten in feinen Aschefahnen. Und das Gesicht seines Vaters …
»Tarean. Komm zu dir!«
Der Junge zuckte zusammen und war mit einem Schlag hellwach. Zumindest für einen Moment. Dann trafen ihn mit leichter Verzögerung die Folgen der Strapazen der letzten Nacht, und er stöhnte unterdrückt auf. Sein ganzer Körper schien eine einzige Quelle des Schmerzes, und seine zerfetzten Kleider klebten ihm feucht und klamm am Leibe. Er fand sich zusammengerollt auf der kalten Erde auf dem Friedhof wieder, dessen niedrige Hecken und Grabsteine im weißen Dunst des Morgennebels, der über den Wiesen und Feldern lag, nur als fahle Schemen auszumachen waren. Der Himmel hatte die Farbe von stumpfem Blei, nur im Osten zeugte ein heller Streifen vom Aufgehen der Sonne und dem Anbrechen eines neuen Tages.
Tarean blinzelte und richtete seine Aufmerksamkeit auf den Mann, der ihn geweckt hatte. »Wilfert?«
»Tarean.« In der Miene des Ritters spiegelte sich unendliche Erleichterung, während er den Jungen mit starken Armen in die Höhe zog und ihn umarmte. »Du lebst. Indra, Jerup und Vazar sei Dank. Ich fürchtete schon, du seist in den Kämpfen der letzten Nacht getötet worden.«
»Wilfert, wie kommt Ihr hierher? Und wie habt Ihr mich gefunden?«
»Wir sahen letzte Nacht von den Mauern von Cayvallon aus Ortensruh brennen und ritten, so rasch es ging, hierher. Doch es blieb uns nicht viel mehr zu tun, als die Trümmer aufzuräumen, die der Kampf hinterlassen hat. Die Bewohner des Dorfes und die Soldaten aus Dornhall haben tapfer gekämpft. Zwar wurden viele verletzt und viele getötet, doch am Ende konnten die Wölfe in die Flucht geschlagen und diejenigen, die sich versteckt hielten, ausgetrieben werden. Und so war es auch
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