Tarean 01 - Sohn des Fluchbringers
Soldaten und Wolflinge, die den Zauber in ihrer Mitte nicht zu spüren schienen, nach links und rechts verlagerten. Das Monstrum, das eben noch mordlüstern auf Tarean zugestürmt war, wurde von einer unvermittelt aus dem Nichts auftauchenden Wurfaxt in die Seite getroffen und jaulend aus der Bahn geworfen – doch das nahm der Junge nur wie durch einen Schleier wahr.
Dann, als habe er bemerkt, dass Tareans ganze Aufmerksamkeit auf ihm ruhte, hob der Fremde die behandschuhten Hände und schlug die Kapuze zurück.
Aus Tareans Gesicht wich alle Farbe, und seine Worte waren kaum hörbar, als er entgeistert hauchte: »Vater?!«
4
DAS ERBE DES VATERS
»Vater, bist du das?«
Tarean konnte nicht sagen, woher er es wusste. Er hatte seinen Vater nie kennen gelernt. Und doch spürte er mit einer Sicherheit, die keinen Zweifel zuließ, dass der geisterhafte Gerüstete niemand anderes war als der Mann, der ihm das Leben geschenkt hatte und der in eben derselben Nacht, in der er selbst in der Ordensfeste der Kristalldrachen in Agialon geboren ward, auf einem fernen, anderen Schlachtfeld umgekommen war.
Die Gestalt blickte Tarean stumm an, und es lag eine Trauer auf ihrem bleichen Antlitz, die dem Jungen durch Mark und Bein ging und ihm schier das Herz zu zerreißen drohte. Langsam wandte sich der Fremde ab, der ja eigentlich gar kein Fremder war, auch wenn er unzweifelhaft nicht mehr in diese Welt gehörte. Dann strebte er gemessenen Schrittes dem fernen Ende des Marktplatzes entgegen.
»Vater! Warte auf mich!«
Wie zwei Vorhanghälften, die nach dem Ende eines Theaterstückes der Mitte der Bühne entgegenfallen, wogten die Kämpfe der Menschen und Wölfe wieder in Tareans Blickfeld und drohten, die weiße Gestalt zu verdecken. Der Junge begann zu laufen. Er drängte sich durch Körper, schob sie zur Seite, taumelte, holte mit dem Schwert aus und schlug sich den Weg frei. Noch immer war ihm, als schlafwandle er mit offenen Augen. Nur schattenhaft nahm er die Leiber der kämpfenden Männer und Wolfskrieger wahr. Und die lodernden Flammen, die immer noch ungelöscht mit gierigen, heißen Fingern nun beinahe alle Häuser rund um den Marktplatz ergriffen hatten, tauchten die Szenerie in unstetes, rötlich-gelbes Licht.
Irgendwo auf halbem Wege verlor Tarean sein Schwert – schon wieder –, rammte es in den gepanzerten Brustkorb eines Grawls und bekam es nicht mehr heraus, sodass er einfach den Griff losließ, während er weiterdrängte, sich nun mit bloßen Händen den Weg durch die menschlichen und nichtmenschlichen Hindernisse freischaufelnd, um die langsam davonschreitende Gestalt nicht aus den Augen zu verlieren.
Endlich hatte er den Marktplatz hinter sich gelassen. Doch sein Vater – oder vielmehr der Geist seines Vaters oder die Erscheinung seines Vaters oder was auch immer es sein mochte – hatte sich bereits mit einigem Vorsprung die Gasse hinaufbewegt, die zu dem kleinen Dreigöttertempel führte, der ein wenig abseits oberhalb des Dorfes lag und den Than Urias kurz nach der Gründung von Ortensruh hatte erbauen lassen.
»Warte auf mich!«
Obwohl er zerschunden und erschöpft war und zahllose Wunden seinen Körper übersäten und schwächten, sammelte Tarean ein letztes Mal all seine Kräfte und rannte der Erscheinung des schimmernden Ritters hinterher. Er erreichte das obere Ende der Gasse und sah, wie die Gestalt den Pfad verließ, der zum Tempel hinaufführte und ihre Schritte nach links lenkte, den sanft ansteigenden Wiesenhang hinauf. Ihr Ziel war ganz offensichtlich …
… der Friedhof.
Tarean hielt inne, und für einen Moment überkam ihn eine fast übernatürliche Scheu vor dem von niedrigen Hecken gesäumten Garten, in dem die Verstorbenen aus Dornhall und Ortensruh begraben lagen. Es war nicht so, dass er übermäßig abergläubisch oder von einer besonderen Totenangst geprägt gewesen wäre. Andererseits wurde man nicht alle Tage von dem Geist eines längst Dahingeschiedenen – der Junge hatte für sich entschieden, dass es sich um die Seele seines Vaters handeln musste, die hier schimmernd Gestalt angenommen hatte – zum Ort seiner letzten Ruhe geführt. Tarean war sich nicht sicher, ob er wirklich sehen wollte, was ihn dort oben erwartete.
Der weiße Ritter blieb am Eingang zum Friedhof stehen, drehte sich um und sah Tarean stumm an. Der Junge biss sich auf die Lippen, dann gab er sich einen Ruck und näherte sich vorsichtig der wartenden Gestalt.
»Vater, warum bringst du mich
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