Tarean 02 - Erbe der Kristalldrachen
»Aber lasst uns nicht leichtsinnig werden. Wenn wir zu lange hier ausharren, überlegen sie es sich vielleicht noch anders. Wir sollten uns möglichst rasch tiefer in die Stadt zurückziehen.«
»Bromm, du bist verletzt«, rief Auril unterdessen, die erst jetzt die Geschosse im Rücken ihres Gefährten bemerkte.
»Nur zwei Kratzer«, keuchte der Werbär völlig erschöpft. »Das hat Zeit.«
»Lass mich dir helfen«, bot Haffta an, deren Beine zwar auch leicht zitterten, die ihre irrwitzige Flucht ansonsten aber besser überstanden zu haben schien als Bromm.
»Nein!«, grollte der Werbär und hob gereizt eine Pranke. »Es hat Zeit.« Er nickte Fenrir zu. »Los, Nondurier, weise uns den Weg durch diese unselige Stadt.«
»Ich will es versuchen«, sagte der hundeköpfige Krieger, wendete sein Pferd und trabte voraus. Die Übrigen kamen ihm nach. Um etwaige Verfolger abzuschütteln, bogen sie ein paarmal willkürlich in irgendwelche Straßen ab, die ihren Weg kreuzten oder von diesem abzweigten. Doch geschickt lenkte sie Fenrir immer weiter nach Süden, in Richtung Stadtmitte.
Während des Rittes blickte Tarean sich voll Staunen um. Gongathar schien wahrhaftig von Titanen errichtet worden zu sein. Türme mit einer Grundfläche, in der kleine Dörfer Platz gefunden hätten, ragten zweihundert Schritt und mehr in den blauen Himmel hinauf. Sie bestanden aus einem bleichen, beinahe weißen Stein, der Tarean unwillkürlich an die Wolkenberge erinnerte. Aber wie sollte es irgendeinem Volk möglich gewesen sein, dort Berge abzutragen und sie inmitten der Steppe von Nondur zu einem neuen, von Menschenhand – oder eher nichtmenschlicher Hand – erschaffenen Gebirge aufzutürmen?
Schwere und Schlichtheit schienen die maßgebenden Ideale für die geheimnisvollen Erbauer von Gongathar gewesen zu sein. Die fantastischen Türme, aber auch die kaum weniger eindrucksvollen Gebäude, welche um diese herum errichtet worden waren und selbst noch eine Höhe von gut fünfzig Schritt erreichten, strahlten allesamt eine klobige Wuchtigkeit aus. Weder die schrägen Kanten, welche die Außenmauern abstützten, noch die Galerien und Terrassen, die in unterschiedlichen Höhen um die Bauwerke herumliefen, oder die weiten Brücken, die sich in schwindelerregender Höhe spannten, vermochten diesen Eindruck abzumildern. Runde Formen fehlten vollständig, und auch an verspieltem Beiwerk mangelte es den zyklopischen Steinmonumenten so offenkundig, dass Tarean sich unwillkürlich fragte, ob jemals ein Lachen vom Grund dieser Straßenschluchten hinauf in den blauen Himmel aufgestiegen war.
Seltsamerweise gab es weder Fenster noch Türen, zumindest keine im herkömmlichen Sinne. Zwar fanden sich durchaus Öffnungen in den steinernen Flanken der riesigen Gebäude, aber diese schienen keiner Ordnung zu folgen. Manche waren klein und schmal, sodass kaum ein Mensch durchgepasst hätte, andere wiederum glichen gewaltigen Portalen, die selbst einem Flugschiff bequem Einlass gewährt hätten – wenn sich denn ein Flugschiffer gefunden hätte, der mutig genug gewesen wäre, in die absolute Finsternis einzudringen, die hinter diesen Schlünden gähnte und nicht einmal erahnen ließ, welche Ausmaße die Hallen im Inneren der Türme hatten.
»Diese Stadt gefällt mir nicht«, stellte Bromm fest. »Es ist zu still hier.«
»Mir ist der Ort auch nicht geheuer«, pflichtete ihm Haffta bei, während sie sich unbehaglich umblickte. »Es fühlt sich an, als laufe man durch ein Grab.«
Tarean legte den Kopf schief und lauschte angestrengt. Tatsächlich war überhaupt kein Laut zu hören. Kein Rufen eines Vogels drang von den Türmen herab, kein Röhren eines verirrten Brulls wehte durch die leeren Straßen, ja, nicht einmal der Wind, der beinahe verstohlen um die Hausecken strich, erzeugte ein Geräusch. Einzig das Klappern der Hufe ihrer Pferde auf dem Stein durchbrach die Stille und wurde von den erdrückenden Mauern zurückgeworfen.
»Keine Sorge«, knurrte Fenrir. »Wir bleiben keinen Augenblick länger als nötig.«
»Ich wüsste zu gerne, wer all das erbaut hat«, murmelte Iegi. »Und welche Geheimnisse in den Tiefen dieser Türme stecken.« Der Taijirinprinz schien die abergläubische Furcht des Werbären und der Grawlfrau nicht zu teilen. Stattdessen glomm in seinen Augen eine gefährliche Entdeckerlust.
»Komm nicht auf die Idee, in eines dieser Gebäude hineinzufliegen«, warnte ihn Auril. »Wir haben schon genug Ärger am Hals, ohne dass du
Weitere Kostenlose Bücher