Tarean 02 - Erbe der Kristalldrachen
rücklings aufgespießt auf einer nadelspitzen Säule aus Bergkristall, die aus dem felsigen Boden herausstach. Eine dunkelblaue Robe hing schmutzig und teilweise zerfetzt von seiner dürren Gestalt herab, und das weiße Haar, das einst ein graues Gesicht mit asketischen Zügen umrahmt hatte, fiel spinnwebengleich in dünnen Strähnen bis auf den Boden.
»Calvas …«, flüsterte Tarean in einer Mischung aus Abscheu und Erkennen. Hier unten in der Tiefe hatte der Hexenmeister also am Morgen der Schlacht um At Arthanoc sein grausames Ende gefunden.
»Nicht ihn, du Strohkopf!« Eine winzige goldene Lichtkugel schwebte in sein Sichtfeld. »Mich!«
»Moosbeere!«
»Sehr gut beobachtet«, piepste das Irrlicht. »Und nun komm. Genug auf dem eisigen Felsboden ausgeruht. Ich muss dir etwas Tolles zeigen.«
Verwirrt richtete sich der Junge auf. Hoch über seinem Kopf bemerkte er das kreisrunde Loch des Schlunds, der offenbar in eine unterirdische Kammer mündete, deren Ausmaße der Junge in der Dunkelheit nicht einmal annähernd abzuschätzen vermochte. Angestrengt blickte er in die Schwärze hinein, doch mehr als die Umrisse irgendwelcher großen Gegenstände, die in der Ferne matt das Licht von Moosbeeres Aura reflektierten, vermochte er nicht zu erkennen. Allerdings spürte er dafür umso deutlicher, dass eine eisige Kälte an diesem Ort herrschte. Fröstelnd verschränkte er die Arme vor der Brust. »Wo sind wir hier?«
»Schau her und staune!«, rief Moosbeere, huschte einige Schritt in die Höhe, und plötzlich gewann die Aura des Irrlichts an Stärke, begann zu strahlen wie eine kleine Sonne, sodass Tarean den Blick von ihr abwenden musste.
Was er stattdessen sah, verschlug ihm den Atem.
Die Kammer war weitaus größer, als er sich vorgestellt hatte. Der gesamte Felsendom musste von Wand zu Wand mehr als hundert Schritt durchmessen, und er war so hoch, dass selbst der Bergfried von Dornhall Platz darin gefunden hätte, ohne an die Decke zu stoßen. Überall um ihn herum ragten weiße Kristalle aus den Höhlenwänden, gewaltige, milchig schimmernde Säulen, die, gefrorenen Strahlen eines Eisgestirns gleich, die kalte Höhlenluft teilten. Manche endeten mitten im Raum, andere reichten beinahe von Wand zu Wand, die Wege wieder anderer kreuzten sich in atemberaubenden Winkeln, und weil nichts ihr unendlich langsames Wachstum aufhalten konnte, hatten die Jahrtausende sie miteinander verschmelzen lassen.
In der Mitte der Höhle aber, gebettet auf einen spiegelblanken See aus Kristall, lag ein Drache.
Tarean hatte bis vor wenigen Monden noch niemals einen lebenden Drachen gesehen. Die erste Begegnung mit dem Glutlanddrachen Igarkjuk am Drakenskal-Pass hatte ihn bis ins Mark erschüttert, und ihr Kampf über den Wolken von Astria hatte dem Wort Angst eine ganz neue Bedeutung gegeben. Igarkjuk war furchtbar und gewaltig gewesen, ein kohleschwarzes Monstrum mit glutfarbener Kehle und Lederschwingen, die einen Sturm entfesselt hatten, wenn der Koloss in die Luft aufgestiegen war.
Doch dieses Geschöpf, das offenbar schlafend nur wenige Schritt von Tarean entfernt auf dem Boden des Felsendoms ruhte, ließ das Bild des Glutlanddrachen im Geist des Jungen zur Bedeutungslosigkeit verblassen. War Igarkjuk groß gewesen, wirkte dieser Drache riesenhaft. Hatte der Glutlanddrache Furcht in den Herzen seiner Gegner und Verbündeten gesät, weckte die majestätische Aura dieses geschuppten Titanen Ehrfurcht.
Das Unglaublichste aber war: Der gesamte Körper des mächtigen Geschöpfs schien aus Kristall zu bestehen. Hunderte nahezu durchsichtige Schuppen bedeckten den im Inneren schneeweißen Leib des Drachen und schillerten und glitzerten im Licht von Moosbeeres Aura in allen Farben des Regenbogens. Die Haut der beiden riesigen Flügel erweckte den Anschein, aus hauchdünnem, bläulich schimmerndem Glas zu bestehen, doch sie faltete sich auf dem gehörnten Rücken des Drachen wie leichtes Segeltuch. Die Stirnpartie des stummen Giganten wurde von einer schweren, schildartig geschwungenen Kristallplatte gekrönt, die in sechs scharfkantige Spitzen auslief und den Eindruck nur noch verstärkte, ein Fürst der Drachen läge hier unten in Ketten.
Und in Ketten lag der Drache tatsächlich. Tarean hatte zwar keine Ahnung, welche Macht am Werke gewesen sein musste, um die mannsdicken Eisenglieder zu schmieden – geschweige denn, sie dem Drachen anzulegen –, aber nichtsdestoweniger schlangen sich drei schwarz brünierte, tonnenschwer
Weitere Kostenlose Bücher