Tarean 02 - Erbe der Kristalldrachen
Himmel, turmhohe und mitunter zu fantastischen Formen verwachsene Gebilde, die bisweilen von innen heraus zu leuchten schienen und überwiegend eine weißliche, aber auch grüne, blaue und violette Färbung aufwiesen. Es war ein Ort, der Tarean so fremdartig anmutete, dass er unmöglich von dieser Welt sein konnte.
Ihm gegenüber stand eine schlanke menschliche Frau mit schneeweißer Haut. Sie hatte die Augen geschlossen und die Hände zusammengelegt, so als meditiere sie. Ihr Körper wies kein Anzeichen von Alter auf, und doch strahlte sie eine Aura von Macht und Würde aus, die nur den Größten unter den sterblichen Königen gegeben war. Ihr ebenmäßiges Gesicht wurde von langem, silbernem Haar umflossen, das in seiner Farbe zu dem bodenlangen Gewand passte, das sie am Leibe trug. Irgendwie rief ihr Bild eine Erinnerung in Tareans Kopf wach, doch er konnte den Gedanken zunächst nicht greifen. Moosbeere , erkannte er dann unvermittelt. Kesrondaia erinnerte ihn an das Irrlicht, dessen Kleid, während es unter dem Bann der Kristalldrachin gestanden hatte, von der gleichen silbrigen Farbe gewesen war.
Er wollte sich soeben räuspern und die Frau auf seine Anwesenheit aufmerksam machen, als sie die Augen aufschlug. Hatte der Junge bis zu diesem Moment nur annehmen können, dass es sich bei seinem Gegenüber um ein menschenähnliches Abbild Kesrondaias handelte, so bekam er nun Gewissheit. Diese Augen aus flüssigem Licht besaß kein anderes Geschöpf auf der Welt. Ein mildes Lächeln teilte die Lippen der verwandelten Kristalldrachin. »So ist es besser, nicht wahr?« Ihre dunkle, weiche Stimme stand in auffälligem Widerspruch zu ihrer gläsernen wahren Gestalt. Aber vielleicht war auch sie, genau wie der weißhäutige Menschenleib, nur eine Illusion Kesrondaias, um Tarean eine Verständigung zu erleichtern.
Der Junge nickte. »Ja. Ich danke Euch.« Dann machte er eine Geste, die ihre Umgebung umfasste. »Was ist das für ein Ort? Ich nehme an, wir sind nicht wirklich hier.« Mit der Zeit begann auch Tarean, sich an die geistigen Kräfte der Geschöpfe der Alten Macht zu gewöhnen.
Kesrondaia schüttelte den Kopf. »Nein, wir sind noch immer in der Höhle unter At Arthanoc. Was ich dir hier zeige, ist eine Erinnerung, die mir in den Jahren meiner Gefangenschaft stets ein Trost war. Präge dir diesen Ort gut ein, denn bevor deine Reise beendet ist, wirst du ihn wiedersehen.«
Tarean machte ein fragendes Gesicht. »Meine Reise? Was wisst Ihr von mir und von dem Weg, der vor mir liegt?«
»Manches«, entgegnete die Kristalldrachin mit einem Lächeln. »Manches nicht. Aber weder du noch ich haben die Zeit, all die Fragen zu stellen, die wir gerne stellen würden. Ich bin krank und schwach, auch wenn man es mir in dieser Gestalt nicht ansieht. Die Ketten, die mir Calvas und sein Herr anlegten, berauben mich meiner Macht. Ich werde nicht lange mit dir sprechen können, bevor ich wieder ruhen muss – und die Zeit, so wenig sie meinesgleichen für gewöhnlich bedeutet, läuft uns davon. Also höre mir gut zu und antworte mir rasch.«
Etwas an ihren Worten beunruhigte den Jungen. Erst mit leichter Verzögerung wurde ihm bewusst, was es war. Calvas und sein Herr. Tarean spürte, wie sich ein flaues Gefühl in seiner Magengegend breitmachte. Sollte der Hexenmeister nicht seine größte Herausforderung gewesen sein? War auch Calvas etwa nur jemandes Handlanger gewesen?
»Vor mehr als hundert Jahren«, begann Kesrondaia zu erklären, so als habe sie die Frage des Jungen gespürt, »wurde ich vom Herrn der Tiefe und seinem gelehrigen Schüler Calvas getäuscht und in diesen magischen Kerker unter der Burg At Arthanoc gesteckt. Gleichzeitig wurden all die Meinen in das Kristalltal, unser verborgenes Sanktuarium, gelockt, und der Herr der Tiefe versiegelte den Eingang mit einem machterfüllten Schloss, das sich von innen nicht aufbrechen lässt. So verschwanden die Kristalldrachen.« Sie richtete ihre glühenden Augen auf Tarean. »Unsere Kinder glaubten, wir hätten uns von ihnen abgewandt. Doch das stimmt nicht. Wir wurden von unseren Feinden vom Antlitz dieser Welt entfernt, damit wir sie nicht bei dem stören würden, was als Nächstes kommen sollte.«
»Calvas und sein Krieg gegen die westlichen Reiche«, mutmaßte Tarean.
»Dies gehörte zu ihren Plänen, ja.«
Der Junge runzelte die Stirn. »Woher wisst Ihr das alles, wenn Ihr doch hier unten eingesperrt wart?«
Die weißhäutige Frau lächelte in einer Mischung
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