Target 5
Sie verschlangen es mit dem üblichen Mangel an Tischmanieren. Eine Fütterung war zu dieser Zeit zwar noch nicht fällig, aber er wollte, daß sie ruhig blieben.
Die Scholle setzte ihr unheimliches Driften in das Nichts fort. Sie spürten keine Bewegung – die Scholle war groß und die Nacht windstill; aber die Strömung trug sie ständig weiter südlich, fort von Target 5. Langer hockte am Rand des Eises. Er strengte sich an, mit den Augen den Nebel zu durchdringen. Eine verdammt hoffnungslose Aufgabe, dachte er; er konnte kaum zwei Meter weit sehen, dann blockierte der graue Dunst seine Sicht. Aber es war nicht ganz so hoffnungslos, wie es schien. Dem Herannahen des Eisfeldes, das wie eine bewegliche Plattform aus hartem, kompaktem Eis aus dem Nebel auftauchen würde, konnte sehr wohl eine Ankündigung vorausgehen: eine kleine Welle, die vor ihm hergeschoben wurde. Das erste Warnsignal dürfte der Moment sein, in dem das Wasser so stark über das Eis schwappen würde, daß es bis hinter seine Stiefel reichte.
Vor dem Nebel sah das schwarze Wasser aus wie Öl, das hier und da mit dem schmutzigen Glanz von dünnen Eisplättchen an der Wasseroberfläche bedeckt war. Die Temperatur betrug fast minus fünfundvierzig Grad, und das Wasser war ständig kurz vor dem Gefrieren; eine neue Eisschicht schien sich zu bilden. Das aber wurde durch die Strömung verhindert.
Er konnte weder die Schlitten noch die Hunde sehen. Als er über die Schulter zurückschaute, hatte er nur lauter schmutzigen Dunst vor Augen. Ein erschreckendes Gefühl der Isolation überfiel ihn.
Er konnte den Eindruck nicht loswerden, daß er sich selbst überlassen war, daß er auf einem Fragment trieb, das von ihrer Scholle abgesplittert und kaum größer war als eine Tischplatte.
Die Furcht zitterte an seinen Nervenspitzen. Er lauschte mit äußerster Konzentration. Wenn das Eis, auf dem er hockte, von der Scholle abbrach, mußte er ein warnendes Krachen hören. Vielleicht aber war es kaum wahrnehmbar. Sie konnten nicht wissen, wie stark das Eis war, auf dem sie trieben; wenn das Eis splitterte, müßte ein scharfes Knacken zu hören sein. Mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze saß Langer geduckt am Rand des Eises. In dieser Haltung sah er im Nebel aus wie ein zottiges Tier, und trotz der vielen Lagen von Kleidung und der zwei Paar Wollhandschuhe unter seinen dicken Handschuhen fühlte sein Körper sich an wie das Eis, auf dem er driftete. Seine Hände waren gefühllos, seine Füße schmerzten, sein Gesicht fror entsetzlich; aber die Furcht machte ihn wachsam. Dann hörte er ein Knacken.
Zitternd zwang er sich aufzustehen. Seine Beinmuskeln waren angespannt. Er war allein. Sein Eisbrett war von der Scholle abgebrochen. Wenn er nur zwei Schritte in irgendeine Richtung tat, würde er in das eiskalte Wasser stürzen, das ihn innerhalb von drei Minuten töten würde. In seiner Panik warf er sich herum. Vor seinem Gesicht hingen Nebelschleier. Er war vollkommen allein. Seine beiden Kameraden hatte er verloren. Er würde sie nie mehr wiedersehen. Eine blinde, grauenhafte Panik stieg in ihm auf. Er zitterte. Dann biß er die Zähne aufeinander. Reiß dich zusammen, um Himmels willen! Er stand ganz still, zitterte und versuchte, seine Panik zu überwinden. Da fühlte er plötzlich das Seilende, das er in seinem rechten Handschuh hielt und das er vergessen hatte. Er war noch mit der Scholle verbunden! Er hatte sich das Entsetzliche nur eingebildet! Müde sank er auf seine Fersen zurück, und seine eisverkrusteten Stiefel knarrten wieder, machten dasselbe Geräusch, das er vorhin gehört hatte. Er fühlte sich schwach vor Erleichterung und kam sich ziemlich albern vor. Die Anspannung machte sich schon bemerkbar; dabei waren sie erst weniger als eine Stunde gedriftet. Vierundzwanzig Stunden später schloß sich die Wasserrinne.
Beaumonts Uhr zeigte zweiundzwanzig Uhr dreißig. Die Scholle schaukelte und drehte sich langsam. Sie war in eine Gegenströmung geraten. Im Osten lichtete sich der Nebel. »Dort drüben wird’s heller«, stellte Langer fest. Er stand auf und zeigte in die Richtung. »Gott sei Dank, es wird heller. Vielleicht können wir etwas sehen…«
»Ich sehe schon etwas«, sagte Beaumont ernst. »Es sieht aus wie Land.«
Das Wort Land entfuhr ihm unbewußt, obwohl die verschwommene Linie, die er sah, nichts als Eis sein konnte – falls er überhaupt etwas sah. Wenn man für lange Zeit in den Nebel starrt, täuschten die Augen Berge und
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