Tarzan 04 - Tarzans Sohn
konnte sie sich im Dorf frei bewegen, denn der Palisadenzaun war hoch und solide, und die einzigen Tore wurden Tag und Nacht scharf bewacht; doch wie schon früher lag ihr nichts an der Gesellschaft der grausamen Araber und verderbten Schwarzen, die das Gefolge des Scheichs bildeten, deshalb zog sie sich in einen entlegenen Winkel innerhalb der Umzäunung zurück, wie sie es schon in den traurigen Tagen ihrer Kindheit stets getan hatte. Damals hatte sie oft unter den breit ausladenden Zweigen des großen Baumes, der über die Palisade ragte, mit ihrer geliebten Geeka gespielt. Der Baum war verschwunden, und Meriem erriet den Grund. Von jenem Baum hatte sich Korak an jenem Tag herabgeschwungen und den Scheich niedergeschlagen, als er sie aus dem Leben voller Elend und Qualen gerettet hatte, das so lange ihr Los gewesen war, daß sie sich an kein anderes mehr erinnern konnte.
Innerhalb der Palisaden wuchsen jedoch niedrige Büsche, in deren Schatten sich Meriem niederließ, um nachzudenken. Ein leichtes Glücksgefühl erwärmte ihr Herz, als sie an ihre erste Begegnung mit Korak und die dann folgenden Jahre dachte, in denen er sie mit all der Fürsorglichkeit und Lauterkeit eines älteren Bruders umsorgt und beschützt hatte. Seit Monaten hatte er ihre Gedanken nicht mehr so in Anspruch genommen wie heute. Er schien ihr näher und teurer zu sein als je zuvor, und sie wunderte sich, daß ihre Empfindungen sich so weit von der Loyalität ihm gegenüber entfernt hatten. Und dann tauchte das Bild des ehrenwerten Morison aus der Erinnerung, des Stutzers, und Meriem war beunruhigt. Liebte sie diesen makellosen jungen Engländer wirklich? Sie dachte an die Sehenswürdigkeiten von London, die er ihr in so beredten Worten geschildert hatte, und versuchte, sich inmitten der fröhlichsten Gesellschaft der großen Stadt vorzustellen, allseits bewundert und geachtet. Die Bilder, die sie sich ausmalte, glichen denen, die der ehrenwerte Morison gemalt hatte. Es waren verlockende Bilder, dennoch trat hinter allen die halbnackte, muskulöse Gestalt des hünenhaften Adonis aus dem Dschungel hervor und wollte nicht weichen.
Meriem preßte ihre Hand aufs Herz, während sie einen Seufzer unterdrückte, und dabei spürte sie das steife Papier des Fotos, das sie an sich genommen hatte, als sie sich aus Malbihns Zelt stahl. Sie holte es hervor und sah es sich genauer an, da sie jetzt mehr Zeit dazu hatte als zuvor. Sie war überzeugt, daß sie das als Kind war, und überprüfte jede Einzelheit des Bildes. Halb zwischen den Spitzen ihres bunten Kleidchens verborgen hing eine Kette mit einem Medaillon. Meriem zog die Brauen zusammen. Welche qualvoll unvollkommenen Erinnerungen rief beides wach! Konnte diese Blume offensichtlicher Zivilisation die kleine Araberin Meriem sein, Tochter des Scheichs? Es war unmöglich, und dennoch – das Medaillon! Meriem kannte es. Sie hatte es zuvor schon gesehen, und es hatte ihr gehört. Welch seltsames Geheimnis lag in ihrer Vergangenheit verborgen?
Während sie das Bild betrachtete, spürte sie plötzlich, daß sie nicht allein war – jemand stand dicht hinter ihr – jemand, der sich ihr lautlos genähert hatte. Schuldbewußt steckte sie das Bild wieder weg. Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. Sie war überzeugt, daß es der Scheich sei, und wartete in dumpfem Entsetzen auf den Schlag, der nach ihrer Erfahrung sogleich folgen mußte.
Doch er blieb aus, und sie schaute über die Schulter – in die Augen von Abdul Kamak, des jungen Arabers.
»Ich habe das Bild gesehen, das du gerade weggesteckt hast«, sagte er. »Das bist du als Kind, als sehr kleines Kind. Darf ich es noch einmal sehen?«
Meriem wich vor ihm zurück.
»Ich gebe es dir wieder«, sagte er. »Ich habe von dir gehört und weiß, daß du dem Scheich, deinem Vater, keine Liebe entgegenbringst. Mir geht es genauso. Ich werde dich nicht verraten. Laß mich das Bild sehen.«
Ohne Freunde unter grausamen Feinden, klammerte sich Meriem an den Strohhalm, den Abdul Kamak ihr hinhielt. Vielleicht fand sie in ihm den Freund, den sie brauchte. Jedenfalls hatte er das Bild gesehen, und wenn er kein Freund war, erzählte er vielleicht dem Scheich davon, und man würde es ihr wegnehmen. So konnte sie ebenso gut seiner Bitte entsprechen und nur darauf hoffen, daß er es ehrlich meinte und ehrlich mit ihr umgehen würde. Sie holte das Foto hervor und gab es ihm.
Abdul Kamak sah es sich aufmerksam an und verglich die Gesichtszüge mit denen
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