Tarzan 04 - Tarzans Sohn
er sich genauestens an, und als er das letzte Stück entfernt und überprüft hatte, sank er mit weit aufgerissenen Augen aufs Bett und sah nur ein grauenvolles Bild vor sich: Zwei Gestalten hingen am Ast eines großen Baumes.
Wie lange er so saß, wußte er nicht. Ein Geräusch im unteren Stockwerk riß ihn aus seinen düsteren Gedanken. Schnell sprang er auf, blies die Lampe aus, ging zur Tür und verschloß sie lautlos. Dann wandte er sich dem Affen zu. Er war zu einer Entscheidung gelangt.
Am gestrigen Abend noch war er fest entschlossen gewesen, bei der ersten sich bietenden Gelegenheit heimzufahren und seine Eltern für das unsinnige Abenteuer um Verzeihung zu bitten. Nun war ihm klar, daß er nie zurückkehren konnte. An seinen Händen haftete das Blut eines Mitmenschen – in seinen krankhaften Überlegungen hatte er längst aufgehört, Condons Tod dem Affen anzulasten. In seiner hysterischen Panik gab er sich allein die Schuld. Mit Geld hätte er sich Gerechtigkeit erkaufen können, aber ohne einen Penny? Für einen Ausländer ohne Geld war die Situation hier aussichtslos.
Aber was war mit dem Geld geschehen? Er versuchte, sich zu erinnern, wann er es das letzte Mal gesehen hatte. Doch er hätte sich sein Verschwinden ohnedies nicht erklären können, da er gar nicht bemerkt hatte, wie das kleine Päckchen aus seiner Tasche geglitten und ins Meer gefallen war, als er über die Reling und in das unten wartende Kanu kletterte, das ihn dann an Land brachte.
Nun wandte er sich an Akut. »Komm!« sagte er in der Sprache der großen Affen. Ohne daran zu denken, daß er nur einen dünnen Schlafanzug trug, ging er ihm voran zum offenen Fenster. Er steckte den Kopf hinaus und lauschte aufmerksam. Einige Fuß vom Fenster entfernt stand ein Baum. Gewandt sprang er ihn an und klammerte sich einen Augenblick an den Stamm wie eine Katze, ehe er behutsam nach unten glitt. Der große Affe folgte dichtauf. Zweihundert Yards entfernt reichte ein Ausläufer des Dschungels ziemlich nahe an die sich ausbreitende Stadt. Dorthin lenkte der Junge seine Schritte. Niemand sah sie, und einen Augenblick später hatte der Dschungel sie verschluckt, und keine Menschenseele bekam Jack Clayton, den künftigen Lord Greystoke, wieder zu Gesicht oder wußte etwas von ihm.
Spät am nächsten Morgen klopfte ein eingeborener Hausangestellter an die Tür des Zimmers, das von Mrs. Billings und ihrem Enkelsohn bewohnt wurde. Da er keine Antwort erhielt, versuchte er, mit seinem Hauptschlüssel aufzuschließen, mußte jedoch erkennen, daß der Schlüssel von innen steckte und ein Aufschließen nicht möglich war. Er meldete diesen Umstand dem Besitzer, Herrn Skopf, der sogleich in den ersten Stock hinaufstieg, wo er kräftig gegen die Tür hämmerte. Als keine Antwort erfolgte, beugte er sich zum Schlüsselloch und versuchte, ins Zimmer zu blicken. Da er von ansehnlicher Statur war, verlor er das Gleichgewicht, so daß er sich mit einer Hand auf den Fußboden stützen mußte, um nicht hinzufallen. Dabei spürte er etwas Weiches, Dickflüssiges, Feuchtes zwischen den Fingern. Er betrachtete seine Handfläche im trüben Licht des Korridors und erschauderte, denn selbst bei diesem Dämmerlicht war der dunkelrote Fleck auf seiner Hand deutlich zu erkennen. Er sprang auf und warf sich mit dem ganzen Körpergewicht gegen die Tür. Herr Skopf war ein schwergewichtiger Mann – zumindest war er es damals, ich habe ihn mehrere Jahre nicht gesehen. Die kümmerliche Tür barst unter seinem Gewicht, und er stolperte Hals über Kopf ins Zimmer.
Vor ihm lag das größte Geheimnis seines Lebens, nämlich der tote Körper eines fremden Mannes. Sein Genick war gebrochen, die Halsschlagader zerrissen wie von den Fangzähnen eines wilden Tieres. Der Körper war völlig entkleidet, die Kleidungsstücke waren im Zimmer verstreut. Die alte Dame und ihr Enkelsohn waren verschwunden. Das Fenster stand offen. Sie mußten auf diesem Wege verschwunden sein, da die Tür von innen verschlossen war.
Aber wie hatte der Junge seine invalide Großmutter durchs Fenster im ersten Stock nach unten tragen können? Es war absurd. Abermals durchsuchte Herr Skopf das kleine Zimmer. Er bemerkte, daß das Bett von der Wand abgerückt worden war – warum? Ein drittes, viertes Mal schaute er darunter. Die beiden waren verschwunden, doch sagte ihm der gesunde Menschenverstand, daß die alte Dame sich ohne Hilfe nicht fortbewegen konnte. Jemand mußte sie hinuntergetragen haben, wie
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