Tarzan 04 - Tarzans Sohn
»Zuerst hörte ich ihn seufzen. Du kannst diesen Laut vielleicht nicht von anderen Geräuschen unterscheiden, die der Wind im Gras und in den Bäumen erzeugt. Aber später mußt du lernen, das Seufzen von Numa herauszuhören. Dann habe ich scharf hingesehen und schließlich bemerkt, wie sich das Gras an einer Stelle anders bewegte als durch die Macht des Windes. Sieh hin, dort biegt es sich zu beiden Seiten seines großen Körpers, und wenn er atmet – siehst du? Du erkennst doch die geringe Bewegung des Grases auf beiden Seiten von ihm, die nicht vom Wind verursacht wird – eine Bewegung, die die anderen Grashalme nicht mitmachen?«
Der Junge strengte seine Augen an – bessere Augen, als ein gewöhnlicher Mensch sonst erbt – und stieß einen kurzen Ruf aus. Er hatte ihn entdeckt.
»Ja, ich sehe ihn. Er liegt dort«, sagte er und wies hin. »Sein Kopf ist uns zugewendet. Beobachtet er uns?«
»Das tut er, aber uns droht keine große Gefahr, es sei denn, wir kommen ihm zu nahe«, erklärte der Affe. »Er liegt nämlich auf seiner Beute. Sein Bauch ist voll, sonst würden wir das Zermalmen der Knochen hören. Er beobachtet uns aus bloßer Neugier so schweigend. Gleich wird er weiter fressen oder aufstehen und zum Wasserloch kommen, um zu trinken. Da er uns weder fürchtet noch uns haben will, wird er auch nicht versuchen, sich vor uns zu verbergen. Aber jetzt ist genau der richtige Moment, um Numa gut kennenzulernen, denn das mußt du tun, wenn du lange im Dschungel leben willst. Wo die großen Affen in Vielzahl hausen, läßt Numa uns in Ruhe. Unsere Zähne sind lang und stark, und wir können kämpfen. Aber wenn einer von uns allein ist und der Löwe gerade jagt, können wir es nicht mit ihm aufnehmen. Komm, wir wollen ihn umgehen und seine Witterung aufnehmen. Je eher du sie kennenlernst, desto besser für dich. Aber halte dich dicht bei den Bäumen, wenn wir ihn umrunden, denn Numa tut oft das, was man am wenigsten erwartet. Und halte Augen, Ohren und Nase offen. Denke immer daran, daß hinter jedem Busch, jedem Baum und zwischen jedem Büschel Dschungelgras ein Feind lauern kann. Während du Numa aus dem Wege gehst, spazierst du vielleicht Sabor, seiner Gefährtin, in den Rachen. Folge mir.« Damit machte sich Akut zu einem weiten Bogen um das Wasserloch und den dahinter hockenden Löwen auf den Weg.
Der Junge folgte ihm dicht auf den Fersen, alle seine Sinne waren hellwach, seine Nerven vor Aufregung aufs äußerste gespannt. Das war das Leben! Einen Augenblick vergaß er seinen erst vor kurzem gefaßten Entschluß, an einem anderen Punkt zur Küste zurückzukehren als dort, wo er an Land gegangen war, und auf dem schnellsten Weg nach London zu gelangen. Er dachte jetzt nur an das Leben in der Wildnis und an die Möglichkeit, seinen Verstand und seine Gewandtheit an den Schlichen und der Körperkraft der wilden Brut des Dschungels zu messen, die die weiten Ebenen und das düstere Halbdunkel der Wälder dieses gewaltigen, noch ungezähmten Kontinents bevölkerte. Er kannte keine Furcht, ebensowenig wie sein Vater, so daß dieser ihm auch keine hatte vererben können. Doch er besaß eine Ehre und ein Gewissen, und die beunruhigten ihn noch so manches Mal, da sie im Widerstreit lagen zu dem ihm angeborenen Freiheitsdrang.
Sie hatten erst eine kurze Strecke im Rücken von Numa zurückgelegt, als der Junge den unangenehmen Geruch des Raubtiers spürte. Ein Lächeln erhellte seine Miene. Etwas sagte ihm, daß er diese Witterung unter tausend anderen herausgefunden hätte, selbst wenn Akut ihm nicht gesagt hätte, daß dort ein Löwe lag. Es war eine seltsame Vertrautheit – eine unheimliche Vertrautheit, die verursachte, daß sich das Haar in seinem Nacken sträubte und seine Oberlippe sich hob, so daß man seine Zähne sah. Unwillkürlich knurrte er leise. Er hatte das Gefühl, als strecke sich die Haut um seine Ohren, als legten sich diese flach an den Schädel in Vorbereitung auf einen tödlichen Kampf. Ihm juckte die Haut. Ein angenehmes Gefühl hatte sich seiner bemächtigt, wie er es zuvor nicht kannte. Er war mit einemmal ein ganz anderes Wesen – wachsam, gespannt, bereit. So verwandelte die Witterung von Numa, dem Löwen, den Jungen in ein Tier.
Er hatte noch nie einen Löwen gesehen – seine Mutter hatte sich zu große Mühe gegeben, dies zu verhindern. Doch er hatte unzählige Bilder von ihnen begierig betrachtet, und nun war er nahezu darauf erpicht, sich am Anblick des Königs der
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