Taschenlehrbuch Biologie - Evolution - Oekologie
Schwestergruppen aus ( Dichotomie ) und suchte nach der letzten für beide Taxa gemeinsamen Stammart. Die Suche nach dichotomen Aufspaltungen ist ein methodisches Prinzip, keine Annahme über die Wirklichkeit: Wenn sich aus der Analyse eine Aufspaltung in mehrere Taxa (eine Polytomie) ergibt, dann wurde eine Serie dichotomer Verzweigungen möglicherweise nur nicht erkannt. Rekonstruiert man alle Artspaltungsereignisse im Evolutionsverlauf (die Kladogenese ) erhält man einen natürlichen Stammbaum der Arten. Das Verfahren lässt sich in verschiedene Schritte unterteilen:
Aufstellung einer Merkmalsmatrix: In einem ersten Schritt werden Merkmalslisten der betrachteten Taxa aufgestellt, sie ergeben ein Rechteckschema, die Merkmalsmatrix. Als Merkmale werden zunächst wahrnehmbare Aspekte eines Organismus verstanden, es kann sich um morphologische, physiologische, ethologische, immunologische oder molekulare Merkmale handeln. Innerhalb des untersuchten Taxon sollen die Merkmale wenig variieren, sich zwischen den Taxa aber deutlich unterscheiden. Ungeeignet für die weitere Analyse sind stark variierende, erblich meist schwach verankerte Merkmale. In die Matrix wird das Vorhandensein (+), das Fehlen (–) oder die unterschiedliche Ausprägung des Merkmals eingetragen.
Identifizierung von Homologien: Nur homologe gemeinsame Merkmale kennzeichnen eine Verwandtschaftsgruppe. Nicht berücksichtigt werden daher Merkmale, die in der Evolution unabhängig entstanden sind, also nichts über eine Verwandtschaft aussagen (Konvergenzen). Die gesuchten homologen Merkmale lassen sich anhand bestimmter Indizien ( Siehe hier ) von nicht homologen (z. B. analogen) unterscheiden, ermöglichen aber zunächst noch keine Rückschlüsse auf die Richtung der Merkmalsänderung.
Identifizierung von Apomorphien: Innerhalb der homologen Merkmale unterscheidet man nun zwischen ursprünglichen Merkmalen, die dem Ausgangszustand ähnlich geblieben sind (primitiv, plesiomorph) und relativ, d. h. im Vergleich zur alternativen Ausprägung, abgeleiteten (apomorphen) Merkmalen, also evolutiven Neuheiten. Das Analyseverfahren wird Außengruppenvergleich genannt.
Parsimonie-Prinzip (Prinzip der sparsamsten Erklärung): Wenn apomorphe Merkmale in der Stammart neu entstanden und an die Folgearten weitergegeben worden sind (Synapomorphien), kennzeichnen sie Schwestertaxa mit einer gemeinsamen Stammart. Die identifizierten möglichen Synapomorphien begründen die Verzweigungsstellen bei der Konstruktion des Stammbaums. Gibt es verschiedene Interpretationen der Merkmale und damit der Artspaltung, so wird die einfachste Hypothese über die mögliche Artspaltung bevorzugt, also diejenige, die zu den geringsten Widersprüchen führt, das heißt die am wenigsten konvergente Entstehung von Apomorphien (Homoplasien) anzunehmen zwingt.
Geeignete Merkmale in der Phylogenetik: Schon ein Kind benennt und ordnet Dinge und Lebewesen in seiner Umwelt, um sie wiederzuerkennen und sie in Zukunft zunutzen oder zu meiden. Dabei fällt es ihm erstaunlich leicht, Dackel und Dogge trotz aller körperlichen Unterschiede als Mitglieder eines Taxon „Hund“ anzusprechen und dieses vom Taxon „Katze“ zu unterscheiden. Offenbar reichen bereits wenige Charakteristika für eine Zuordnung aus. Die stark variierenden Merkmale Größe, Haarfarbe oder Gewicht des Hundes kommen dafür nicht in Frage. Auch Fell, Vierbeinigkeit oder Schwanz sind ungeeignet, da der Hund sie nicht nur mit der Katze, sondern auch mit anderen Säugetieren gemein hat – es sind (relativ) ursprüngliche Merkmale. Zutreffend, aber wertlos, sind Negativmerkmale wie „keine Federn“,“keine Schuppen“. Typisch für den Hund sind eher Gebell, Geruch und freudiges Schwanzwedeln, das sind gemeinsame Merkmale aller äußerlich verschiedenen Hunde, die Nicht-Hunden fehlen (mögliche Synapomorphien). Dass man mit der intuitiven Merkmalsauswahl durchaus falsch liegen kann, zeigt die umgangssprachliche Einordnung des Wales als Walfisch, aufgrund seiner Körperform und seiner marinen Lebensweise. Für die verwandtschaftliche Zuordnung von Arten ist die Wahl geeigneter Merkmale also ein entscheidender Schritt. Nach logischen Gesichtspunkten muss es sich um erbliche, homologe und relativ abgeleitete Merkmale handeln, aus praktischen Gründen sollen die Merkmale leicht erkennbar sein und wenig variieren.
8.2.1 Die Homologie-Vermutung
Die Ähnlichkeit von Arten ist ein erstes Indiz für eine verwandtschaftliche
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