Taschenlehrbuch Biologie - Evolution - Oekologie
(Abb. 11. 6 ) wird ein vorübergehend existierender Organismus postuliert, der mittlerweile wieder ausgestorben ist. Die Überlegungen beruhen auf Genomvergleichen zwischen Vertretern aller drei Reiche. Hierbei wurden ca. 350 Eukaryoten-typische Proteine identifiziert, die weder bei Vertretern der Archaea noch der Bacteria zu finden waren. Auch der Protist Giardia intestinalis , von dem man annimmt, dass er sehr früh in der Stammesgeschichte der Eukaryoten abgezweigt sei (s. u.), wurde in diese Analysen einbezogen. Diese Eukaryoten-typischen Proteine haben ihre Funktionen im Cytoplasma und im Membransystem, beispielsweise im Cytoskelett oder in der Ca 2+ -Kontrolle in der Signaltransduktion, im Endoplasmatischen Retikulum sowie im Cyclinzyklus, einem Kontrollzyklus des Zellzyklus. Die Chronocyten-Hypothese besagt nun, dass zeitweise ein weiterer Zelltyp, die Chronocyte , existierte. Diese besaß bereits die genannten Eukaryoten-spezifischen Proteine, einen von einem Bakterium abstammenden Zellkern und zusätzliche genetische Information von der Archaea-Linie. Diese Chronocyte war der Vorläufer der Eukaryoten, aber auch ein Überbleibsel der sogenannten RNA-Welt mit RNA als Speicher der Erbinformation ( Siehe hier ). Der Kern der Chronocyte, ein Abkömmling eines Bakteriums, nutzte hingegen DNA als Informationsspeicher. Damit liefert diese Hypothese zumindest eine sinnfällige Erklärung für die eukaryotische Trennung nucleärer Transkription und cytoplasmatischer Translation.
Abb. 11. 6 Chronocyten-Hypothese zur Evolution der Eukaryoten. Die Chronocyte war ein zeitweilig existierender Zelltyp mit RNA als Informationsträger. Der Kern entwickelte sich von einem Bakterium mit DNA als Informationsspeicher. (Nach Schlegel und Hülsmann, 2007.)
Allerdings liefern alle bislang angeführten Hypothesen keinerlei funktionelle Erklärung , unter welchem Selektionsdruck die extrem unwahrscheinliche Fusionphylogenetisch entfernt verwandter Organismen ( Siehe hier ) stattgefunden haben könnte. Einen solchen Ansatz beinhaltet die Wasserstoff-Hypothese (Abb. 11. 7 ). Diese basiert auf der vergleichenden Analyse basaler Energiestoffwechselprozesse. Sie führt die Entstehung der Eukaryotenzelle auf die Symbiose eines Archaeons mit einem Bakterium zurück. Als Wirtszelle wird ein anaerobes, wasserstoffabhängiges, autotrophes Archaeon angenommen, das Wasserstoff und CO 2 zur Synthese von Methan benötigte. Als Symbiont stellt man sich ein heterotrophes, aerobes Bakterium vor, das aber auch unter anaeroben Bedingungen leben konnte und dabei als anaerobes Abfallprodukt molekularen Wasserstoff produzierte. Dieses Bakterium wurde später zum Mitochondrium. Es wird hierbei angenommen, dass die Abhängigkeit des Wirtes von molekularem Wasserstoff des Symbionten die treibende selektive Kraft war, die letztlich zur Eukaryotenzelle führte ( anaerobe Syntrophie ).
Abb. 11. 7 Modell zur Evolution der Eukaryotenzelle nach der Wasserstoff-Hypothese. a Der zukünftige Symbiont (blau) war ein sowohl zu anaerobem als auch aerobem Stoffwechsel fähiges, Wasserstoff produzierendes Bakterium. Der Wirt (gelb) war ein Wasserstoff abhängiges, autotrophes Archaeon. Der Wasserstoff kam zunächst auch noch aus der Umgebung. b Durch Versiegen des freien Wasserstoffes aus der Umwelt wurde das Archaeon vom Wasserstoff des fakultativ anaeroben Bakteriums abhängig (Wirtsabhängigkeit). c Das Archaeon strebte immer mehr Berührungsoberfläche mit dem Bakterium an, um die Wasserstoff-Ausbeute zu erhöhen, bis es dieses völlig internalisiert hatte. Zu diesem Zeitpunkt muss ein Transfer der Gene des Glykolyse-Stoffwechsels stattgefunden haben. d Mithilfe des Endosymbionten konnte nunmehr der Wirt sowohl anaerobe als auch aerobe Lebensräume besiedeln. Durch den Gentransfer und die Reduktion der Stoffwechselvorgänge war der Endosymbiont allein nicht mehr lebensfähig, wohl aber der Wirt. Daher gab es mehrere Möglichkeiten der Weiterentwicklung. (Nach Martin und Müller, 1998.)
Entscheidend zum Verständnis dieser Hypothese ist der gänzlich neue Ansatz, dass die Domestizierung eines Bakteriums zunächst überhaupt nicht einer effizienteren ATP-Synthese diente. Diese Annahme ist allerdings insofern naheliegend, als zum Zeitpunkt der frühen Mitochondrienevolution noch gar kein bis kaum molekularer Sauerstoff vorhanden war. Aus Gensequenzvergleichen wissen wir heute, dass der Mitochondrienvorläufer ein α-Proteobacterium war. Vertreter dieser Gruppe
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