Tastenfieber und Liebeslust
vorhanden gewesen sein.
Betrachtet man die Weltwirtschaftslage, so ist eindeutig, dass wir in Westeuropa, und da besonders in unserem Land, seit 60 Jahren enorm privilegiert sind – ja, auch diejenigen, die nach unserer Vorstellung bescheiden leben müssen. Auch sie werden durch unseren Sozialstaat nicht alleingelassen. Verhungern muss in Deutschland niemand.
Reichtum ist nicht von Geld abhängig. Reichtum ist Liebesfähigkeit, Fantasie, Fähigkeit zu sozialem Engagement. Reichsein heißt für mich auch, die tiefen Gefühle zu erkennen, die uns die Kunst in Musik, Literatur, Malerei, auch in Religion, Geschichte oder durch fremde Sprachen u. v. m. vermitteln kann. Botanik, ein Zoobesuch … welche Schätze sind das!
Auch mein Selbstbewusstsein hat mit Fünfsternerestaurants, Fernreisen oder einem Mercedes (auch wenn ich glücklicherweise einen kutschieren kann) nichts zu tun. Ich bin die gleiche Marion, wenn ich mit Turnschuhen auf meinem Fahrrad durch Steglitz radle.
Leider kenne ich das Erdbeermund-Gedicht nicht. Sicher eine Bildungslücke! Verzeihen Sie mir das? Aber umfassend gebildet, was Sie verlangen, ist doch wohl niemand! Um diese, meine unverzeihliche Bildungslücke schließen zu können, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mir dieses Gedicht mailen würden.
Ja, und natürlich interessiert mich der weitere Brief an Ihre Damen! Ich möchte Sie schließlich kennenlernen! Ihrem Schreiben entnehme ich, dass Sie sich mit dem Kennenlernen Zeit lassen wollen. ›Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben‹ – das ist nun gar nicht meine Devise! Ich weiß, schon durch meine jahrelange Unterrichtstätigkeit, dass ein ganz anderes Motto mindestens so gültig ist: ›Die Letzten werden die Ersten sein!‹ Zusätzlich ist hier nicht von Bestrafung die Rede, was ich als Pädagogin mit förderndem Blick immer abgelehnt habe.
Darf ich fragen?
Wie viele Kinder haben Sie? Und was treiben diese?
Die Entwicklung junger Menschen, ihr Werdegang liegt mir von jeher am Herzen, interessiert mich noch immer, auch wenn ich heute nicht mehr so hautnah das Leben junger Menschen teile, wie ich es viele Jahre tat.
Welche der elf Damen werden Sie wohl wählen? Wahrscheinlich wissen Sie es selbst noch nicht, dennoch würde es mich interessieren, was für Sie dabei entscheidend sein wird.
Ihre Marion
pockroy@ web.de
31. Juli – 19:16 Uhr
Liebe Marion,
so, die erste Hürde wurde nun übersprungen. Meinen Glückwunsch! Die nächste Stange wird deutlich höher liegen. Aber vorweg zu Ihren Fragen:
Ist denn der Gynäkologe für Homo- und Transsexuelle zuständig, oder evtl. für androgyne Kassenpatienten?
Zur Brut: Vier Kinder, zwei Jungs und zwei Mädchen. Die älteste Tochter ist verheiratet und mit zwei süßen Jungs auf dem besten Wege, das besagte Plansoll von vier Kindern zu erfüllen.
Selbst wenn Sie nur für Deutsch und Religion zuständig waren, müssten Sie sofort erfassen, dass ich von 16 Enkeln ausgehe. Ich freue mich schon sehr auf diese große Schar, habe aber etwas Angst davor, ob ich mir alle Namen merken werde.
Der nächste ist ein Sohn, der bereits als Kind durch seinen biegsamen Körper überall Eindruck machte. Er arbeitet heute in einem weltberühmten Zirkus, und seine akrobatischen Leistungen gehören zum Höhepunkt der Veranstaltung.
Dann kommt einer, der vor vier Wochen sein Examen als Statiker ablegte, und nun auf Arbeitssuche ist. Bei der gegenwärtigen Konjunkturlage und dem Studium dürfte eine interessante Stellung sicher sein. Dann kommt meine jüngste Tochter, die Theaterwissenschaften studiert.
Auch ich liebe, neben Parzival und dem Ring, den Tristan am meisten. Ich besuchte im letzten November die Aufführung in der Staatsoper unter den Linden. Als ich das wunderschön gesungene ›Sieh, wie mild und leis er lächelt …‹ hörte, schossen mir zum dritten Mal die Tränen in die Augen.
Villons ›Erdbeermund‹ kennen Sie nicht? Ich dachte, jede Dame würde dieses Gedicht rauf- und runterbeten können. Und mit Google kommen Sie anscheinend auch noch nicht klar! Heute kann man sich doch schneller und umfassender bei Google über alles informieren, als bei der Suche in der eigenen Bibliothek, und man braucht noch nicht einmal aufzustehen. Da ich eine lange und teure Erziehung genoss, will ich Sie nicht auf die Folter spannen und Ihre Wissenslücke beheben (dennoch: einer Studienrätin kann man verzeihen, dass sie das Gedicht nicht kennt, einer Oberstudienrätin aber
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