Tate Archer – Im Visier des Feindes: Band 1 (German Edition)
Christina meine Mom im Badezimmer in Beschlag genommen hat. Und was ich jetzt gerade entdecke, ist, dass meine Mom in mehr als einer Hinsicht ein Genie ist, denn Christina sieht unglaublich gut aus, wenn man bedenkt, was sie durchgemacht hat. Ihr dickes, blondes Haar ist sauber und glänzt und bedeckt den Verband vollständig. Meine Mom hat es sogar geschafft, Christina ein dünnes lila Kleid zu besorgen, das ziemlich gut zu ihrer schlanken Figur passt, auch wenn es für meinen Geschmack ein bisschen zu lang ist. Obwohl: Als ich sehe, wie sich jeder Mann im Raum zu ihr umdreht, bin ich plötzlich ganz froh darüber.
Ich lege eine Hand auf ihren Rücken und sie sieht zu mir auf. Wir hatten noch keine Gelegenheit, uns zu unterhalten, und sie hat keine Erinnerung an das meiste, was heute passiert ist, weder an unseren Kuss im Van noch daran, wie wir gemeinsam Race und seine Männer bekämpft haben. Ich weiß wirklich nicht, wo ich bei ihr stehe.
»Wie fühlst du dich?«, frage ich in der Hoffnung, einen Hinweis von ihr zu bekommen.
»Als hätte jemand mit meinem Kopf Fußball gespielt«, sagt sie mit einem tapferen Lächeln. »Aber es geht schon.«
Ich beuge mich zu ihr hinunter und küsse sie auf die Schläfe, erleichtert, dass sie sich mir nicht entzieht. »Wir müssen ja nicht lange bleiben.«
»Bleib einfach in meiner Nähe, okay?«
»Alles klar.«
Rufus sitzt am Kopfende eines Tisches, hebt seinen Krug in unsere Richtung und gibt uns mit einer Geste zu verstehen, dass wir zu ihm kommen sollen. Seine welligen weißen Haare liegen in strähnigen Löckchen um seinen Kopf herum.
Es ist ziemlich heiß hier drinnen. Das könnte an dem tosenden Feuer liegen, das am Kadaver eines aufgespießten Schweins nagt. Mir tun die Typen leid, die das kurze Streichholz gezogen haben und jetzt die Kurbel drehen müssen.
Meine Mutter, die ein schlichtes blaues Kleid mit geradem Ausschnitt angezogen hat, stellt »Christina Alexander« vor, wirft mir einen betonten Sei-vorsichtig-Blick zu und geht dann rüber zu Esther und einem käsigen Typen, der vermutlich Mr Esther ist – und der gleichermaßen ihr Bruder oder Cousin ersten Grades sein könnte. Ich fröstele und versuche, nicht darüber nachzudenken, welches Maß von Inzucht so viele Fälle von Xeroderma pigmentosum hervorbringt.
Rufus begrüßt Christina mit einem großväterlichen Händeschütteln. Wenn ich es nicht wüsste, wäre ich nie darauf gekommen, dass er Brayton Alexander mit wilder Leidenschaft hasst – so, wie er Braytons »Nichte« begrüßt.
»Wir sind so froh, dass du alles gut überstanden hast, junge Dame«, sagt er zu ihr, während er ihr die Hand tätschelt. »Was für eine Geschichte.«
»David ist ein hervorragender Arzt«, erwidert Christina mit einem einnehmenden Lächeln. Sie trägt ihren Charme wie ein Kettenhemd, und ich verstehe jetzt, wieso sie heute Abend gut aussehen wollte. Das war keine Eitelkeit. Das war, um sich zu schützen.
Rufus nickt ihr zu und wirft dann einen Blick zu David, der eines der Fässer bedient und alle paar Sekunden zu uns hinübersieht.
»Er war schon immer ein kluger Junge. Der jüngste Sohn meiner Schwester.« Er zeichnet ein kleines Kreuz auf seine Brust, was wahrscheinlich bedeutet, dass sie tot ist. Ich frage mich, ob sie dieselbe Krankheit hatte wie ihr Sohn oder ob sie das Leiden nur übertragen hat.
Ganz plötzlich setzt Musik ein: Eine Frau, so blass wie ein Geist, sitzt am Klavier, und ein Junge, der aussieht, als wäre er höchstens zehn, spielt Geige. Ein Typ in meinem Alter zieht ein Mädchen, das kaum älter sein dürfte und ein geblümtes Kleid trägt, in die Mitte des Saals, um zu tanzen.
Ich fühle mich wie in einem Pionierfilm.
Rufus nickt mir zu. »Führ die junge Dame auf die Tanzfläche, bevor ich sie dir wegnehme«, sagt er beinahe heiter. Dann zwinkert er Christina zu, deren Finger sich in meinen Ärmel krallen.
Ich versuche, ihren Gesichtsausdruck zu lesen. Sie lächelt, doch sogar unter dem warmen Licht sieht sie fahl aus.
»Ich bin nicht sicher, ob sie …«, beginne ich.
»Soll das heißen, du willst nicht mit mir tanzen, Tate Archer?«, fragt sie scherzhaft. Ihren Griff lässt sie nicht locker.
Ich schlinge meinen Arm um ihre Taille. »Nun ja, da du mir den Arm verdrehst …«
Sie streckt mir die Zunge raus, während wir hinüber zu den Tänzern laufen. Das ist so eine vertraute, liebenswerte Geste, etwas, das sie schon tausendmal in der überfüllten Cafeteria oder auf dem
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