Tatort Mallorca - Die Tote in der Moenchsbucht
sie aus ihrer Lethargie. Ihr fällt die Mauer mit dem Brombeerbusch ein. Lieber Kratzer von oben bis unten als von einem Irren, der vielleicht glaubt, sie würden zu den weißen Frauen gehören, umgebracht zu werden. Gab es nicht schon einen Mord? Wer weiß, wozu dieser Folterknecht in seinem Rachefeldzug fähig ist?
Ihr Blick hetzt über die Büsche an der Seite des Eingangs. Wo war sie nur gestern Nachmittag durchgeschlüpft? Alles sieht anders aus.
Der Mann kommt immer näher, zum Glück rennt er nicht, stellt Julia erleichtert fest. Er geht wie in Trance.
„Siehst du das Gespenst?“ Ulla scheint wieder unter die Lebenden zurückzukehren, wenn sie auch anscheinend noch nicht vollständig im Hier und Jetzt angekommen ist. „Komm, wir müssen uns verdrücken!“ Julia zieht Ulla mit sich durch ein heckenartiges Gebüsch, das zwar nicht mit Dornen wie der Brombeerbusch bestückt ist, aber deren Zweige ebenfalls scharf die Hände einritzen.
„Au“, schreit Ulla, „muss das sein?“ Anscheinend ist sie sich noch immer nicht über den Ernst der Lage im Klaren, denkt Julia und zerrt sie einfach weiter. Einen Vorteil hat das Dickicht, wenn sie Glück haben, kann sie ihr Verfolger nicht mehr sehen. Aber verfolgt er sie eigentlich? Sie lugt vorsichtig zurück auf den Weg. Noch immer geht er langsam auf den Ausgang zu. Ein wenig Mondlicht fällt auf seine Gestalt. Julia kann jetzt sogar die Schuhe an den Füßen des Mannes erkennen. Er trägt dicke Wanderstiefel mit roten Schnürsenkeln. Ein Gedanke möchte in ihrem Gehirn festsetzen. Sie hält sich nicht weiter damit auf. „Komm, bitte, Ulla“, flüstert sie der Freundin beschwörend zu, „tu mir den Gefallen, nur noch ein kleines Stück ...“
Zum Glück weigert sich Ulla nicht, sondern hält sich brav an Julias Anweisungen. Sie folgt ihr mechanisch, wenn sie an der Hand genommen wird. Lässt Julia die Hand los, bleibt sie stehen. Julia bückt sich und drückt Ullas Rücken ebenfalls hinunter, so bewegen sie sich stumm seitlich weg vom Eingang. Julia hofft, irgendwann ein Zeichen zu erkennen, dass ihr sagt, hier war es, hier ist das bekannte Mauerstück, über das wir rüberklettern und uns in Sicherheit bringen können.
Julia traut sich nicht, hoch zum Haus zu schauen. Sie hört das Feuer, und das ist erschreckend genug. Der Feuerschein hilft, die Bodenbeschaffenheit besser zu erkennen. Da, endlich. Der Brombeerbusch. Also haben seine Stacheln etwas Gutes, sie haben Erinnerungswert.
„Wir sind da“, flüstert sie Ulla zu. „Nur noch über die Mauer. Schaffst du das?“ Ulla nickt.
„Hier, komm.“ Julia stupst Ulla auf die aufgehäuften Steine zu, und tatsächlich klettert Ulla ohne Murren hinauf und springt auf der anderen Seite hinunter. Julia tut sich schwerer, ihre Knochen und Sehnen haben einige Jahre mehr auf dem Buckel und sind nicht mehr so beweglich. Natürlich reißt sie sich an den Stacheln wieder die Hand auf. Dieses Mal ist es die linke. Ein Busch, der um Gerechtigkeit bemüht ist, kommt ihr für einen wahnwitzigen Moment in den Sinn.
Endlich stehen sie auf dem Weg draußen. Der Vermummte wird sich hoffentlich kaum die Mühe machen, über eine Mauer zu klettern. Wenn er jetzt einen Öffner für das Tor hat? Dann kann er mühelos hinausmarschieren, und sie sind ihm hier auf dem Weg wie auf einem Präsentierteller ausgeliefert, mehr noch als innerhalb des Geländes. Wieder braucht Julia einen Moment, die Denkblockade zu überwinden. Erst als ihre Panik sich legt, beginnen ihre Augen das Gelände abzusuchen. Gibt es hier einen Unterschlupf? Hat Ulla nicht etwas von einer Höhle erzählt?
Nicht weit von ihrem Standort entfernt ragen Felsen hoch. Ja, das ist die Lösung. Im Schatten des Berges finden sie sicher ein Versteck, und wenn die Feuerwehr eintrifft, kommen sie raus.
Wieder fasst sie Ullas Hand, und sie rennen geduckt und im Zickzack auf den Berg zu. Julias Atem geht schwer, lange hält sie diesen Stress nicht mehr aus. „Es wird alles gut, es wird alles gut.“ Bis sie den Fels erreichen, vergeht eine halbe Ewigkeit, jedenfalls kommt es ihr so vor. Endlich können sie hinter einem halbhohen Vorsprung in Deckung gehen und sich hinhocken. Erleichtert lehnt sich Julia an das schützende Areal der Felsformation und zieht Ulla neben sich. Ulla schließt die Augen. Julia beschleicht Angst. Ulla darf nicht einschlafen. Sie tätschelt ihr die Wange, Ullas Augen öffnen sich wieder. „Wo bin ich, wo ist meine Mutter, sie war gerade noch
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