Tatort Oktoberfest (German Edition)
bilden sich Gruppen, Glas klirrt. Ludwig steht hilflos eingekeilt inmitten der Menge, wird angestoßen, zur Seite geschoben, landet am Rand des Geschehens, als Pfiffe ertönen und Polizisten in einer Reihe mit Schildern vor dem Leib in die Menge hineinstoßen, Steine aufgehoben werden, durch die Luft fliegen. Ludwig schiebt sich gegen die Massen hinaus, er will nur eines: Zu Claudia, koste es, was es wolle. Ihr will er helfen, alles andere ist unwichtig.
Di Flavio wird an eine Wand gequetscht. „Gebt doch a Ruah.“ Die Moderatorin bemüht sich vergeblich, Ordnung zu schaffen. Ein Wurfgeschoss vertreibt sie von der Bühne. Tische und Bänke werden umgestoßen. Die Ordnungskräfte versuchen einzugreifen. Bierseidel fliegen durch die Luft. Menschen sacken blutüberströmt zusammen. Andere kauern unter noch verbliebenen Tischen. Der Schankkellner bemüht sich, die VIP-Leute in der Schenke zu verteidigen. Eine Gruppe Italiener drängt sich grölend in das Zelt und stürmt Fahne schwenkend zum Podium.
Alles wird präzise und vergrößert auf der Leinwand übertragen. Ein Kameramann, offensichtlich krisengebietserprobt, liefert hautnahe, journalistisch aufregende Bilder, bis die Sendezentrale die Perspektive wechselt und den Bavariaring von oben zeigt. Eine schier endlose Reihe von Wohnmobilen riegelt das Festgelände ab. Die Stimme des Reporters überschlägt sich: „Die Italiener haben die Wiesn umzingelt. Der Ruf ‚Claudia, forza, Claudia, forza‘, schallt bis zu uns zur Paulskirche hinauf. Wird die Polizei die Straße gewaltsam räumen, wie sie es gerade auf dem Platz vor der Public-Viewing-Leinwand versucht?“ Das Kampfgeschehen wird eingeblendet. Di Flavio stöhnt auf. Eine weitere Eskalation wäre eine Katastrophe.
Claudia sieht sich plötzlich allein gelassen. Mit den Kameraleuten ist auch Sonia davongerannt.
„Ich muss wieder arbeiten“, bedeutet ihr der Mann von der Geisterbahn. „Aber warten Sie, ich bringe Ihnen noch etwas Normales zum Anziehen, diese Fernsehleute spielen ja ganz schön verrückt.“ Sie schließt die Augen, genießt die Ruhe. Der Rummellärm gibt hier, im Schatten des Geschehens, nur eine Geräuschkulisse. Sie hört die Schreie, wenn die Waggons beim Fünferlooping in die Tiefe stürzen, hört die Schlagermusik vom Autoscooter. Der Geruch von Steckerlfisch weht zu ihr herüber, sie verspürt plötzlich Hunger, obwohl noch immer etwas Übelkeit in ihren Eingeweiden rumort. Sie zieht die Gerüche in die Nase. Gebrannte Mandeln, mhm, der säuerliche Duft von glasierten Äpfeln und der Geruch von den mit Vollmilch- oder Bitterschokolade überzogenen Bananen, Datteln oder Erdbeeren, der starke Zwiebelduft von den Fischsemmeln, Bratgeruch vom Schmalzgebäck, den Auszog’nen. Ein Paradies. Schöne Erinnerungen an fröhliche Kindertage. „Hier, nehmen Sie das“, stört sie die Stimme des Mannes, und eine Hand mit Sachen streckt sich ihr entgegen.
„Danke.“ Sie schält sich aus dem schwarzen Trikot. Ohne Beleuchtung wirkt das aufgemalte Totengerippe harmlos. Sie ist trotzdem froh, es loszuwerden. Schnell streift sie die Jeans über, sie schlackert ein wenig weit in der Taille. Mit dem Gürtel, der dazugehört, bringt sie die Hose auf Form. Dankbar registriert sie die Wärme des schwarzen Pullis, der ebenfalls mehr als ein paar Nummern zu groß für sie ausfällt. Sie kuschelt sich gemütlich in die Wolle. Vorsichtig entfernt sie das Tuch von der Wunde am Arm. Als es wieder anfängt zu bluten, reicht ihr der Mann wortlos ein neues Tuch. „Danke.“ Wollte Sonia nicht einen Sanitäter verständigen? Wo bleibt sie nur?
„Ist soweit alles in Ordnung? Die Decke können Sie noch behalten, lassen Sie sie einfach liegen, wenn Sie gehen. Den Rest geben Sie mir einfach morgen zurück, in Ordnung?“
Sie nickt, und der Mann verschwindet hinter der Tür. Der Gedanke an das Dahinter lässt sie erneut zittern. Trotzdem erhebt sie sich. Sofort ist ihr schwindlig, und sie lässt sich auf die Bank zurückplumpsen. Einfach noch etwas sitzen bleiben, nimmt sie sich vor, ein paar Minuten, dann …
Das telefonino in di Flavios Hosentasche vibriert. „Wimmer?“ brüllt er. „Ausnahmesituation? Ja. Verdammter Mist. Im Zelt, in dem die Ziehung des Wettbewerbs stattfand, geht es drunter und drüber. Meine Landsleute haben es gestürmt und fordern lautstark, dass Claudia hergeschafft wird. Ich soll zur Einsatzzentrale kommen? Unmöglich. Ich bin hier eingekeilt. Warte. Leg nicht auf! Ich habe eine
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