Tatort Oktoberfest (German Edition)
von selbst. Jedes Mal nimmt sie den Hörer vorsichtig, erst mit einiger Entfernung, an das Ohr, atmet durch, wenn sie eine normale Stimme hört. Wie mechanisch streicht sie die Termine in dem großen Buch durch, als wäre es das Normalste der Welt. Fast möchte sie albern kichern. Ach ja, Sie haben die Zeitungen gelesen, mein Lokal kommt für Sie nicht mehr infrage? Sie haben Angst, hier der Mafia zu begegnen? Sie sind kein Abenteurertyp? Haben Sie etwa Angst, erschossen zu werden? möchte sie fragen, aber sie sagt nur: „Aber sicher, Ihre Termine haben sich geändert, ich streiche Ihre Reservierung.“ Nach einer Weile legt sie das Buch auf den Tisch. Das Telefon bimmelt fordernd. Sie lässt es läuten, hockt nur da und schaut auf die Maserung des Tisches, zieht mit den Fingern die Linien der Abnutzung nach, dann schaut sie hoch. Der Chefkellner und die Küchenfrau verbergen rasch den besorgten Blick und geben sich beschäftigt.
„Einen Roten bitte, den brauche ich jetzt“, sagt sie in die auffällige Stille hinein, in der nur das Scharren des Besens, den die Küchenfrau über den Boden schleift, und das Klirren der Gläser, das der Chefkellner beim Einräumen verursacht, zu hören ist. „Okay, ihr wisst es selbst. Es kommen harte Zeiten auf uns zu. Aber keine Angst. Ich wollte den Wettbewerb aufgeben, aber jetzt denke ich nicht mehr daran. Ich werde kämpfen, darauf könnt ihr euch verlassen.“ Sie kippt den Wein in einem Zug runter, erhebt sich dann. „Ihr könnt heute nach Hause gehen, es gibt frei. Bitte sagt den anderen Bescheid, dass sie gar nicht erst zu kommen brauchen. Nur einer muss dableiben, wegen der Scheibe. Macht euch einen schönen Tag auf meine Kosten.“
Als sie langsam die Treppe zu ihrer Wohnung hinaufsteigt, verlässt sie die Stärke, ihr ist, als hätte sie Blei an den Füßen. Sie tröstet sich damit, dass ihr noch ein paar Stunden bleiben, bis sie ins Geschirr muss, denn so kommt sie sich jetzt vor: wie ein Gaul, der eingespannt wird und laufen muss, ob er will oder nicht. In ihrer Wohnung öffnet sie das Fenster. Ein erster eisiger Herbstwindhauch fegt herein. Die Straße wirkt leer, fast verlassen. Sie tritt einen Schritt zurück, bleibt bei offenem Fenster stehen, fühlt die Kühle in sich eindringen. Ihre Hand sucht Halt an einer Sessellehne. Ihre Münchner Heimat scheint ihr in diesem Moment fremd. Die Leichtigkeit der Stadt, die ihr sonst so gefällt, hat sich irgendwo hinter diese schwarzen Bürofronten verkrochen, die gegenüber in den inzwischen bedeckten Himmel ragen. Müde schließt sie das Fenster und legt sich auf das Bett. Ihre Brüste spannen.
In dem abgeschlossenen Kosmos des Senders pustet nur der Wind der Klimaanlage durch die Räume, sorgt für eine Umwälzung der abgestandenen Luft. Ochshammer registriert den feinen Hauch Kälte als angenehm auf der Haut. Die Fürsorge, mit der ihn alle umgeben, tut ihm gut. Er fühlt sich seit dem Tod seiner Frau zum ersten Mal wieder souverän. Als die Kleine mit den Schlangenlederstiefeln ihn beim Hinausgehen anbettelt, sie doch am Abend zur Veranstaltung mitzunehmen, sagt er geschmeichelt zu. Es kommt kein Zweifel auf, sie ist bereit, mit dem Sieger auch mehr zu teilen, als nur einen Abend in einem Bierzelt. Schaun ma moi, denkt er, und der Gedanke an ein aufregendes neues Leben keimt in ihm auf. Sicher wird sie oder eine andere dieser jungen Rosen ihn nicht wegen seiner Schönheit und wegen seiner vergangenen Jugend lieben. Er ist kein Dummkopf. Sie tun es nur wegen des Geldes und der Macht. Warum nicht, er hat doch genug davon. Oder?
„Ein herzliches Willkommen zum letzten Wettbewerbsabend. Ihr fiebert der Auflösung entgegen? Wollt entscheiden, wer zum Super-Wiesn-Wirt gekürt wird? Aufgepasst. Heute geht es um die Wurst.“ Die Ansagerin lacht. Die Musik spielt einen Tusch. „Heute ist nicht der Kandidat Ochshammer am Zug. Martin, Sie haben sich gestern wirklich heldenhaft geschlagen. Ihre Quoten sind fast ins Astronomische gestiegen. Heute bekommt Claudia ihre letzte Chance.“ Sie faltet den Zettel auseinander, schaut zu Claudia, die gleich unterhalb des Podiums an einem Tisch zusammen mit Ochshammer sitzt. Neben ihm ein rosiges Geschöpf, das ihn immer wieder in ein Gespräch verwickelt, kichert und seine Aufmerksamkeit voll in Anspruch nimmt. Claudia würde davon nichts mitbekommen, würde das Geturtel nicht auf der Großleinwand übertragen werden. Doch jetzt schwenkt die Einstellung auf sie, und die
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